Zerfall und Zufall

Paul Austers metafiktionales Spiel in "The Brooklyn Follies"

Von Jörg AubergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Auberg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit Paul Auster in den späten 1980er Jahren mit den experimentellen Detektivromanen der "New Yorker Trilogie" in den USA und Westeuropa reüssierte, ist sein Name zu einem Markenzeichen im internationalen Literaturbetrieb geworden. "Seine Bücher sind gespickt mit intellektuellen Fallen, Anspielungen und Geheimsystemen" schrieb Auster 1987 über Georges Perec, "und wenn sie nicht notwendigerweise tiefgründig sind (in dem Sinne, wie Tolstoi und Mann tiefgründig sind), sind sie wunderbar unterhaltend (in dem Sinne, wie Lewis Carroll und Laurence Sterne unterhaltend sind)".

Gleiches ließe sich auch über das Werk Austers sagen, das nicht allein auf zahllose literarische Vorbilder wie Kafka, Beckett und vor allem Hawthorne anspielt und erfolgreich Experiment mit Entertainment verbindet, sondern auch oft extrem konstruiert und stilisiert erscheint - wie das Schwarz-Weiß-Foto des Künstlers als Student der Columbia University aus dem Jahre 1968, das nun auf dem Cover des Bands "Collected Prose" erscheint, der Rezensionen, Essays, Vorworte und Artikel aus den Jahren von 1974 bis 2002 vereint. In diesem Porträt erscheint Auster etwas düster und geheimnisvoll, als posiere er als verheißungsvoller Möchtegern-Schriftsteller, der erst nach Jahren als Übersetzer, Kritiker und erfolgloser Autor seine wahren Talente unter Beweis stellen konnte.

Auch wenn er in manchen seiner Romane an den eigenen Ambitionen scheiterte oder sie mit postmodernem Klimbim zum Nachteil des Werks überfrachtete, bleiben seine Bücher selbst im Misslingen interessant. Sein neuester, mittlerweile zwölfter Roman "The Brooklyn Follies" hat die Gaukeleien des Vorgängers "Nacht des Orakels" über Bord geworfen und konzentriert sich auf das Geschichtenerzählen. Im Zentrum des Romans steht der frühpensionierte, 60jährige Versicherungskaufmann Nathan Glass, der nach einer Lungenkrebstherapie und der Trennung von seiner Frau aus Suburbia nach Brooklyn zurückkehrt, um an diesem Ort zu sterben. Doch entdeckt der Lebensmüde inmitten dieses multikulturellen Mikrokosmos' das Leben neu. Glass, schon immer mit einem Faible für Literatur ausgestattet, wandelt sich zum spät berufenen Autor, der nach seinem Umzug nach Brooklyn mit einem Buch über die menschlichen Torheiten beginnt. In Austers metafiktionalem Spiel stellt Glass' "The Book of Human Folly" ein Auster-typisches Buch im Buch dar, ein Kaleidoskop, das mit seiner Multithematik und einer beeindruckenden und manchmal verwirrenden Phalanx auf- und abtauchender Figuren in diversen fiktionalen Texturen überaus unterhaltsam ist und nicht lediglich raffinierte Oberflächen mit interessantem Personal darbietet. Litt das Vorgängerbuch noch unter seiner angestrengten Aufbietung literarischer Kunststücke, die sich in ihrer Summe als Fehlleistungen herausstellten, so findet in "The Brooklyn Follies" ein eher stoisches Dahingleiten im Lebensstrom Brooklyns statt, wobei der Zufall wie so oft Austers heimlicher prägender Protagonist ist. Eine in sich geschlossene Welt scheint in immer neuen Konstruktionen einer Logik des Zerfalls zu folgen, um schließlich in einer Folge nicht endenwollender Zufälle neue Beziehungen und Kollisionen zu bewirken.

Das Buch wartet mit einer ereignisreichen, zuweilen sich überschlagenden Handlung auf. Nachdem sich Glass in seinem alten Stadtviertel, in dem er heranwuchs, neu eingerichtet hat, trifft er zufällig auf seinen Neffen Tom Wood, den er lange aus den Augen verloren hatte. Aus dem hoffnungsvollen Akademiker in spe ist eine gescheiterte Existenz geworden, der sich zunächst als Taxifahrer durchschlug und später eine Anstellung im Buchantiquariat des illustren Harry Brightman fand, der nach einem aufgeflogenen Kunstfälscher-Coup und anschließender Haft einen Neuanfang in Brooklyn unternommen hatte. Als Lucy, die neunjährige Tochter von Toms verlorener Schwester Aurora unerwartet auftaucht und beharrlich schweigt, unternehmen Glass und Tom eine Tour nach Vermont, um das Mädchen bei einer verhassten Verwandten zu "parken", doch statt dessen findet Tom dort seine zukünftige Frau, und die Viererbande kehrt nach Brooklyn zurück. Unterdessen stirbt Brightman unter einer Herzattacke, als ihn sein ehemaliger Kumpan mit einem neuerlichen Coup, dem Verkauf eines gefälschten Manuskripts von Hawthornes "The Scarlett Letter" an einen angeblichen Millionär, ins Verderben stürzen will, um sich für den Verrat an die Polizei vor Jahren zu rächen. Schließlich endet die Revue vieler menschlicher Torheiten am Morgen des 11. Septembers 2001, kurz vor dem verheerenden Terroranschlag auf das World Trade Center. Am Schluss erleben alle Figuren nicht ein glückliches, aber ein gutes vorläufiges Ende ihrer Geschichten.

Auf den ersten Blick erscheint Austers Roman mit seiner Vielzahl an Themen überfrachtet: Travestie und HIV-Erkrankung, Politik (die Handlungen ereignen sich in der Zeit zwischen der Wahlkampagne von 2000 und dem Anschlag auf New York), Homo- und Bisexualität, christlicher Fundamentalismus und religiöses Sektentreiben, Hörigkeit und Erpressung, Kriminalität, Drogen und Massenkultur, detektivische Spurensuche und Gefangenenbefreiung, ethnische und kulturelle Konfrontationen, Sex und Beziehungen im Alter wabern durch die Kapitel, werden eher angerissen denn tiefer ergründet. Beispielsweise wird die Frage des damaligen amerikanischen Wahlkampfes, ob eine Stimme für den alternativen Kandidaten Ralph Nader letztlich den Triumph für George W. Bush bedeute, lediglich kurz in einer Diskussion in Vermont behandelt. Der Roman betreibt eine Art "topic hopping": In einem Moment hebt Auster ein Thema mit einem Blitzlicht hervor, um im nächsten Kapitel zu einem anderen zu springen. Bis zu einem gewissen Grad mag der Vorwurf stimmen, dass Austers "Besessenheit" vom Zufall als gestalterisches Element eine thematische oder politische Stringenz unterminiert und die Figuren wie Flipperkugeln von einer Begegnung zur nächsten springen. Freilich trägt Auster mit seiner episodischen, puzzleartigen Struktur auch der urbanen, facettenreichen Struktur eines in vielfacher Weise multikulturellen Stadtteils namens Brooklyn Rechnung, wo vieles schnell auftaucht und rasch verschwindet, bis sich ein gebrochenes, oft zersplittertes Bild allmählich zusammensetzt, ehe es wieder von dem am Himmel sich abzeichnenden Unheil vernichtet wird.

Auch die Kritik, Auster überstrapaziere den Zufall und überschütte den Leser mit Implausibilitäten, zielt ins Leere, denn gerade dies macht die Einzigartigkeit und den Reiz der Auster'schen Prosa aus. Vieles ist verwoben und greift ineinander, erscheint arbiträrer als frühere Arbeiten, die zwar durch ihre trickreiche Konstruktion bestachen, zuweilen aber auch etwas steril wirkten. Dagegen verströmt "The Brooklyn Follies" einen entspannten, episodischen Charme und ermöglicht dem Leser auch ein fiktionales glückliches Ende, ehe er wieder der Katastrophen dieser Welt gewahr wird.


Titelbild

Paul Auster: Collected Prose.
Picador, New York 2005.
17,90 EUR.
ISBN-10: 031242468X

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Titelbild

Paul Auster: The Brooklyn Follies.
Faber and Faber, London 2005.
19,90 EUR.
ISBN-10: 0571224970

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