Im Schattenreich

Jan Lurvinks Orpheus-Roman berührt philantropische Sphären Jan Lurvinks Jan Lurvinks Orpheus-Roman berührt philantropische Sphären

Von Katharina DelogluRSS-Newsfeed neuer Artikel von Katharina Deloglu

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seine Romantitel klingen in den Ohren nach: erst "Windladen", jetzt "Lichtung". Jan Lurvink bringt Resonanzen zum Schwingen, die Bedeutung auf Bedeutung schichten. "Windladen" sind die Luftbehälter der Orgelpfeifen, ihr zentrales Atemorgan, das der Mechanik Leben einhaucht - wie der Protagonist, ein junger Musiker vom Land, seiner Musik. "Lichtung" ist die lichte Stelle im dunklen Wald, der Licht- und Ausblick, das Ende eines mühsamen Gangs in die Unterwelt. In seinem zweiten Roman erzählt uns der Schweizer Jan Lurvink, selbst Musiker und Komponist, die Orpheusgeschichte neu.

Der Ich-Erzähler, ein beseelter junger Komponist, kann seine Eurydike (Claire) weder durch seine Musik noch durch aufopferungsvolle Hingabe aus dem Schattenreich ihrer Depressionen zurückholen. Liebe, versuchte Rettung, Verlust und Trauer sind die archetypischen Stationen des antiken Mythos, die der junge Mann während eines Krankenhausaufenthalts in ausgedehnten Rückblenden verarbeitet. Er nimmt an einem medizinischen Experiment teil, das den Einfluss von Licht und Dunkelheit auf die Seelenbefindlichkeit erforscht. Reduziert auf eine lückenlos kontrollierte, rein vegetative Existenz, findet er erstmals die nötige Ruhe zur Erinnerung.

Und so werden fragmentarisch die seelischen Verknotungen sichtbar, an denen die junge Frau leidet: die traumatische Erinnerung an den behinderten Bruder, der an ihrem vierten Geburtstag starb, der Leistungsdruck der wirtschaftlich arrivierten und emotionslosen Eltern und schließlich ihr gebrochenes Selbstbild, das sie zur zähen, erbarmungslosen Arbeit an sich treibt. Am Ende steht der Rückzug in eine verzweifelte, misanthropische Verschlossenheit.

Jan Lurvink zeichnet ein fein ziseliertes Psychogramm, aus dem die Liebenden zunehmend als unvereinbare Pole hervortreten. Während Claire in ihrem Leben alles kontrollieren und klar voneinander trennen möchte, sucht der Protagonist nach Verbindungen, mehr noch: nach Sinnzusammenhängen. Er zieht Vergleiche, bindet Details in einen neuen Kontext ein und entwirft damit Bilder, die immer ein Stück über das Diesseits hinausweisen: "Die Leute haben die Musik zu Hause parat im Regal, wie ein Aquarium mit Salzwasser und Meeresfischen drin, zum zwischendurch Hingucken. Aber das Aquarium ist nicht das Meer, das ist nicht einmal ein kleiner Ausschnitt des Meeres, weil alles, was das Meer ausmacht, fehlt. Und so ist es mit der Musik."

Es sind Betrachtungen wie diese, die mit einfachen Worten die Welt entschlüsseln und dabei ihre metaphysische Sphäre berühren. Jan Lurvink hat den seltenen Mut, das Elementare aus der Nähe zu beäugen und dabei alte Werte wiederaufleben zu lassen: Bescheidenheit, Demut und das Wissen um die eigene Ohnmacht. So klingen auch im Kunstverständnis des Protagonisten Ideen einer vergangenen Epoche an: "Und die Musik hat ein Schicksal, und dieses ist verknüpft mit dem aller Menschen. Da kann der Einzelne gar nichts ausrichten."

Fernab von jeder Dogmatik breitet Lurvink seine Überzeugungen vor den Augen des Lesers aus. Es ist ein Welt- und Menschenbild, das auf unerschütterlichem Vertrauen fußt, sich dabei aber eindeutig gegen jede Art von Gottesvorstellung wendet. Ein zartes, aber eindringliches Plädoyer für Offenheit, Toleranz, Hingabe und letztlich die Liebe zum Menschen, diesem komplizierten und eigensinnigen Wesen. Wann immer die Romanfiguren ihr Erklärungsmodell für Welt und Mensch vorbringen, begegnet der Erzähler ihnen respektvoll, aber mit Distanz: sei es dem pragmatisch-empirischen Ansatz des diagnostizierenden Arztes, dem gläubigen des Priesters oder dem meditativen des Physiotherapeuten.

Wahrscheinlich ist es genau diese objektive Erzählhaltung, mit der es Lurvink gelingt, den Leser restlos für sich einzunehmen. Wo in "Windladen" noch barocke Wortgewalt die leisen Frequenzen häufig nicht durchdringen ließ, wo der beißende, sarkastische Humor oft zur Karikatur des dörflichen Lebens ausholte, findet der Autor hier eine ruhigere Gangart. Er entschlackt die poetische Wucht, filtriert daraus eine dichte, höchst ästhetische Sprache und lässt immer wieder leise Ironie anklingen. Diese sorgt dann auch dafür, dass die Schwermut, die unweigerlich mit der Geschichte einer verlorenen Liebe einhergeht, nie ins Pathetische kippt.

Während Jan Lurvinks Debüt noch autobiografische Körperwärme anhaftete, hat es der Erzähler nun geschafft, seine Nabelschnur zu durchtrennen. In "Lichtung" spricht ein Melancholiker und Philanthrop, ein mutiger und ernster Weltdeuter. Wo er kritisiert - das Belanglose und Unverbindliche, das Phrasenhafte und Unaufrichtige im menschlichen Miteinander -, zeigt er Bedauern, statt anzuprangern, und Befremden, statt zu geißeln. Und dann, einige wenige Male, holt seine zarte Stimme doch aus: zu einer Metapher, die sich zur bewegenden, allumfassenden Liebeserklärung weitet und uns ganz stumm werden lässt vor dieser schlichten, poetischen Meisterschaft.


Titelbild

Jan Lurvink: Lichtung. Roman.
DuMont Buchverlag, Köln 2005.
136 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3832179070

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch