Der „Weltanschauungsdirigent“

Ernst Pipers materialreiche Lebensdarstellung von Alfred Rosenberg beschreibt seine Rolle als ‚Chefideologe? der nationalsozialistischen Weltanschauung

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ernst Pipers Abhandlung über Alfred Rosenberg kommt gewichtig daher. Über 800 Seiten widmet der Autor einem Mann, der seit den frühen Münchner Jahren des nationalsozialistischen Aufstiegs einer der engen ‚Weggefährten‘ Hitlers war. Und anders als viele der frühen ‚Kampfgenossen‘ wie Anton Drexler, Ernst Röhm, den Strasser-Brüder, Rudolf Heß oder Ernst Hanfstaengl konnte Rosenberg seine Position in Hilters Nähe bis zum Ende der Naziherrschaft behaupten. „Wenige konnten so wie Rosenberg ihre Position halten. Und nur ganz wenige wie Himmler und Goebbels und mit Einschränkungen Göring überflügelten ihn deutlich.“ Und so kommt der Autor zu dem Schluss, „dass von den Menschen im Umkreis des großen Diktators nur Goebbels und Himmler Rosenberg an Wirkungsmacht gleichkamen.“

Doch eben diese „Wirkungsmacht“ wurde im Falle Rosenbergs lange Zeit bezweifelt oder in Abrede gestellt. Maßgebend war hier in Deutschland wieder einmal ein Votum Joachim Fests. Wohl auch, um die Rolle des speziellen Schützlings Albert Speer abzusichern, hatte Fest eine Einteilung vorgenommen, die ’stilbildend‘ bei der Interpretation der Naziverantwortlichkeiten blieb: hier die „Techniker und Praktiker der totalitären Herrschaft“ Göring, Goebbels, Himmler und Bormann, dort das „Personal der totalitären Herrschaft“. Eine „höchst ungleichgewichtige Equipe“, bewertet Piper die Fest`sche Einteilung, „der so unterschiedliche Leute angehörten wie der unsägliche Papen, der überaus mächtige Speer, außerdem Ribbentrop, Heß und von Schirach […] und eben Rosenberg.“ Letzterer galt seitdem als der „vergessene Gefolgsmann“, den man als „harmlosen Spinner sah, der ein großer Dogmatiker war, aber spätestens seit 1933 nichts mehr zu sagen hatte.“

Gegen die hinter solcherart Einschätzung sich verbergende Entideologisierung des Nationalsozialismus wendet sich Pipers Interpretation der Rolle Rosenbergs. Stattdessen nimmt er Ernst, was Mitarbeiter Rosenbergs anlässlich einer Silvesterfeier 1943 gedichtet hatten: „Zehn Jahre sind ins Land gegangen, / Seitdem der Alfred angefangen / Mit seinem straffen Regiment / Als Weltanschauungsdirigent.“ Er bezeichnet ihn als „Hitlers Chefideologe[n]“, weil der Nationalsozialismus natürlich „ideologischen Charakter“ hatte:“Wenn man unter Ideologie die Gesamtheit der von einer Bewegung hervorgebrachten Denksysteme, Wertungen und geistigen Grundeinstellungen versteht, war er selbst zweifellos ein Ideologe. Und wenn man sich seine Weltsicht zu Eigen machen und von klangvollen Titeln auf reale Macht schließen wollte, könnte man ihn sogar einen Chefideologen nennen.“

Allerdings ist damit noch wenig über die reale machtpolitische Bedeutung Rosenbergs in Partei und Staat ausgesagt. In Pipers Darstellung wird nun deutlich, dass Rosenberg, ein „Fachmann“, ein „Mann des Wortes“ vor allem als Autor war. Weder war er ein Redner, noch ein operativ geschickt agierender ‚Politiker‘. Eben das aber führte dazu, dass Rosenberg trotz häufiger Ämterprotegierung durch Hitler aus der ihm zugewiesenen Ämtermacht keine reale operative Macht ziehen konnte.

Sein Feld war und blieb die „ideologische Aufrüstung“. Rosenberg „wollte Denker, das heißt Vordenker der Bewegung sein.“ Als Herausgeber des „Völkischen Beobachters“, des „Weltkampfs“ und der „Nationalsozialistischen Monatshefte“ war er redigierend und schreibend bemüht, „einer nationalsozialistischen Weltanschauung den Weg ebnen.“ Hitler dankte dem Getreuen nach dem missglückten Putschversuch von 1923, indem er ihm die Führung der Partei während der Verbotszeit anvertraute. Als Rolf Eidhalt (ein Anagramm auf Adolf Hitler) nahm Rosenberg diese Aufgabe kurze Zeit wahr.

Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung übernahm Rosenberg das Amt des „Leiters des Außenpolitischen Amtes der NSDAP“. Kein Ministeramt, Rosenbergs Feld blieb die Partei. Als „Beauftragter des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP“ entwickelte er die Idee einer nationalsozialistischen Eliteuniversität. Doch die „Hohe Schule“, die als letzter Baustein das dreigliedrige Bildungssystem bestehend aus den Adolf-Hitler-Schulen, den NS-Ordensburgen und der Hohen Schule ergänzen sollte, blieb Stückwerk auch deshalb, weil Rosenberg sich gegen Konkurrenzansprüche aus Robert Leys „Arbeitsfront“ und der Organisation „Kraft durch Freude“ oder Baldur von Schirachs Hitlerjugend nicht entscheidend durchsetzen konnte. Mit Hitlers Fürsprache blieb schließlich die Option „Forschung“. Ab 1939 erlaubte ihm das „Institut zur Erforschung der Judenfrage“ die wissenschaftlich verbrämte Plünderung jüdischer Kulturgüter. Mit dem Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg (ERR) wurde 1940 die ‚erfolgreichste‘ der nationalsozialistischen Kunstrauborganisationen eingerichtet.

Minister wurde Rosenberg erst im Zuge des Angriffs auf die Sowjetunion. „Rosenberg, jetzt ist ihre große Stunde gekommen“, zitierte er in seinem Tagebuch Hitler, als dieser ihn zum Beauftragten für die Fragen des osteuropäischen Raums und später zum Minister für die besetzten Ostgebiete ernannte. „Alfred Rosenberg war nun ins Zentrum der politischen Macht gerückt.“

Doch wieder unterliegt Rosenberg den konkurrierenden Ansprüchen, die von Göring (Wirtschaft) und Himmler (Sicherheit) erhoben werden. Eine neue Konkurrenz erwächst ihm zudem in Rüstungsminister Speer, „der Mann, der ihn […] ohne jeden Kompromiss und ohne alle Umschweife aus dem Weg räumte […]“. Fazit: „Es gelang Rosenberg nicht, seine neue Machtposition in reale Macht umzumünzen. Er war ein Denker und Planer, aber kein Exekutor.“

Als „Denker und Planer“ aber hatte er seinen Beitrag zum Eroberungskrieg gegen die Sowjetunion ebenso geleistet wie zur Verfolgung und Ermordung der Juden in Europa und speziell in den besetzten Ostgebieten. Die von Piper angeführten Dokumente und Denkschriften sind von erschütternder Klarheit und lassen keinen Zweifel an den Vernichtungsabsichten Rosenbergs. Folgerichtig wurde Rosenberg denn auch vom Nürnberger Tribunal in allen Anklagepunkten für schuldig erklärt und hingerichtet.

Pipers umfangreiche Biografie des „Seelenkämpfers“ Rosenberg ist eine materialreiche Geschichtsdarstellung, die zuweilen indes dazu neigt, allzu schwallartig zu erzählen als systematisch zu analysieren. Das mag manchem spezifischen Leserinteresse an Rosenberg und seiner ‚Ideologie‘ den Zugang erschweren. Lesbar ist sie aber als Gesamtdarstellung, in welcher Rosenbergs Rolle im nationalsozialistischen Machtgefüge deutlich wird. Dass diese bedeutsamer ist als jene einstmals von Fest zugewiesene Staffagenrolle belegt verdienstvoll der vorliegende Band.

Titelbild

Ernst Piper: Alfred Rosenberg. Hitlers Chefideologe.
Blessing Verlag, München 2005.
830 Seiten, 23,90 EUR.
ISBN-10: 3896671480
ISBN-13: 9783896671486

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