Zeter und Mordio

Gesa Danes Ansatz zu einer Literaturgeschichte der Vergewaltigung

Von Christine KünzelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christine Künzel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Anschluss an Susan Brownmillers provokante Studie "Against Our Will" (1975) entstanden - nicht zuletzt bedingt durch die interdisziplinäre Etablierung der Women's und Gender Studies - zahlreiche Arbeiten zum Thema Vergewaltigung. Während die Debatte um die Repräsentation sexueller Gewalt in den USA von Beginn an von den Literatur- und Kunstwissenschaften mitgeprägt wurde, hat sich die Diskussion in Europa zunächst in den Geschichtswissenschaften entwickelt, ist dann aber in den späten 80er Jahren zunehmend auch in anderen Disziplinen thematisiert worden. Allerdings setzt eine entsprechende Debatte im deutschsprachigen Raum erst verspätet und recht zögerlich ein und konzentriert sich zunächst auf rechtliche Fragen im Rahmen einer Debatte um eine Reformierung des Sexualstrafrechts. Inzwischen sind die Frühe Neuzeit und das 18. Jahrhundert, was den Aspekt der Codierung sexueller Gewalt in rechtlichen, medizinischen und literarischen Diskursen betrifft, jedoch auch hierzulande relativ ausführlich erschlossen (vgl. die Online-Bibliographie zur "History of Rape"). Das 19. und das 20. Jahrhundert sind in dieser Hinsicht dagegen bis jetzt keineswegs hinreichend erforscht

Vor diesem Hintergrund ist es mehr als erstaunlich, dass Gesa Danes Studie "Zeter und Mordio. Vergewaltigung in Literatur und Recht" im Feuilleton der FAZ quasi als Neuentdeckung eines literarischen Topos gefeiert wurde. In der Tat bietet Danes Studie eine wichtige ergänzende Perspektive zu bereits vorliegenden Arbeiten zur Repräsentation sexueller Gewalt in Literatur und Recht im deutschsprachigen Kontext. Auf diese Studien nimmt Dane auch explizit Bezug, wenn sie kritisiert, dass die von Sabine H. Smith in ihrer Arbeit "Sexual Violence in German Culture" (1998) vorausgesetzte Methode einer "Foucauldian feminist's perspective" wesentliche Funktionen des Rechts (jenseits des Repressionsparadigmas) übersieht - so z. B. die Schutzfunktion von Recht gegenüber Schwächeren. Dane bemängelt sowohl an Smiths Ansatz als auch an meiner eigenen Arbeit - Christine Künzel, "Vergewaltigungslektüren. Zur Codierung sexueller Gewalt in Literatur und Recht" (2003) -, dass sich beide Studien auf neuzeitliche Literatur vom 18. bis zum 20. Jahrhundert beschränkten, und dass intertextuelle Bezüge zur antiken Literatur weitgehend ausgeblendet blieben.

Die Vorwürfe sind insofern obsolet, als jedes Forschungsprojekt seinen Gegenstand einschränken und einen bestimmten Fokus wählen muss, was zugleich bedeutet, dass andere Aspekte vernachlässigt werden (müssen). Obwohl es in der Einleitung den Anschein hat, Dane habe vor, so etwas wie eine Literaturgeschichte der Vergewaltigung im deutschsprachigen Raum vorzulegen, wird man entweder mit Enttäuschung oder mit einem realistischen Maß an wissenschaftlichem Vorstellungsvermögen feststellen, dass auch Danes Studie sich auf ganz bestimmte literaturgeschichtliche Abschnitte konzentriert. In der Tat gelingt Dane ein überzeugender Vorstoß in die Literatur des 17. Jahrhunderts, indem sie sich der Darstellung sexueller Gewalt in einschlägigen Werken des Barock widmet: so etwa Grimmelhausens "Courasche", Lohensteins "Arminius" und Georg Philipp Harsdörffers "Der Grosse Schau-Platz jämmerlicher Mord-Geschichte". In diesem Teil legt Dane überzeugende und originelle Lektüren im Hinblick auf die Repräsentation sexueller Gewalt im Kontext von Ehr- und Keuschheitsdiskursen vor. Auch wird die Lektüre stets begleitet von einem Bezug zu den antiken Vorbildern - wie etwa Lucretia oder Virginia, wobei die Figur der Philomele leider unberücksichtigt bleibt. Dane konzentriert sich insbesondere auf die problematische Stellung der Lucretia innerhalb der Geschichte der sexuellen Gewaltdelikte, die nicht zuletzt durch Augustinus' ausweichende Stellungnahme zur Figur der Lucretia und der Möglichkeit eines anschließenden oder präventiven Selbstmords im Falle einer (drohenden) Vergewaltigung in seinem Spätwerk "Vom Gottesstaat" beeinflusst ist. Eine Diskussion, die - wie Dane überzeugend darstellt - noch in Lessings "Emilia Galotti" fortwirkt.

In den Kapiteln zum 18. und frühen 19. Jahrhundert arbeitet sich Dane im wesentlichen an literarischen Texten ab, die im Hinblick auf die Darstellung sexueller Gewalt bereits ausführlich untersucht worden sind: Heinrich Leopold Wagners "Die Kindermörderin" und Heinrich von Kleists "Die Marquise von O..." - und als einziges Gedicht Goethes "Heidenröslein", dies allerdings in einem früheren Kapitel. So gelangt die Autorin in diesen Abschnitten über eine Zusammenfassung vorliegender literatur- und kulturwissenschaftlicher Erkenntnisse kaum hinaus. Hier wäre es sicherlich sinnvoller und auch ertragreicher gewesen, sich Texten und Textsorten zu widmen, die bisher kaum unter diesem Aspekt untersucht worden sind, so insbesondere die Lyrik, in der es von Verführungs- und Vergewaltigungsszenarien nur so wimmelt.

Wenn auch der Ausflug in andere Literaturen in dieser Arbeit nicht immer plausibel erscheint, da sich die Ausführungen zu den juristischen Kontexten - zwar von den antiken Codices hergeleitet - ausschließlich auf die Entwicklung im deutschsprachigen Raum beziehen, so zählt die Diskussion von Samuel Richardsons Roman "Clarissa" und dessen Rezeption in der deutschsprachigen Literatur, etwa in Goethes "Heidenröslein" oder in Herders Gedicht "Die Blüthe", zu den Höhepunkten dieser Studie, da Dane die Bedeutung des "Modells Clarissa" für die Tradition der Repräsentation sexueller Gewalt in der Literatur hier genauestens herausarbeiten kann.

Doch endet auch Danes Unternehmen einer Literaturgeschichte der Vergewaltigung Mitte des 19. Jahrhunderts mit einer Analyse von Ida von Hahn-Hahns "Gräfin Faustine". Neuere Vergewaltigungserzählungen - wie etwa Leonie Ossowskis "Von Gewalt keine Rede", Karen Duves "Regenroman" und Inka Pareis "Die Schattenboxerin" - werden zwar im Einleitungskapitel genannt, jedoch nicht näher analysiert. Das ist insofern bedauerlich, als sich sowohl in jüngsten Erzählungen als auch in Theaterstücken der Eindruck vermittelt, dass sexuelle Gewalt (leider immer noch) zu einem wesentlichen Bestandteil weiblicher kultureller Sozialisation zu zählen scheint. Auch hat in der Auseinandersetzung mit den Bürgerkriegen in den letzten Jahrzehnten eine verschärfte Diskussion der Funktion sexueller Gewalt in kriegerischen Konflikten eingesetzt, die u. a. auch eine Rethematisierung der Vergewaltigungserfahrung deutscher Frauen im Zuge der Niederlage im Zweiten Weltkrieg nach sich zog - so etwa in der skandalisierten Diskussion um das anonym erschienene Tagebuch "Eine Frau in Berlin". Obwohl Dane mehrere Werke bespricht, in denen eine Vergewaltigung in oder am Rande von kriegerischen Auseinandersetzungen stattfindet - wie Lohensteins "Arminius", Grimmelshausens "Courasche" und Kleists "Marquise von O..." - bleibt die Autorin eine ausführlichere Diskussion der Ereignisse vor dem Hintergrund des Kriegs und insbesondere des Kriegsrechts schuldig, obwohl gerade in diesem Bereich bereits Untersuchungen vorliegen, die an kulturwissenschaftliche Geschlechter- und Körperdiskurse anknüpfen - wie etwa die Studien der Militärhistorikerin Ruth Seifert.

Trotz des Versuchs, die unterschiedlichen Rechtsverhältnisse in die Lektüre einzubeziehen, legt Dane eine Studie vor, deren detaillierte Recherche in erster Linie der germanistischen Philologie und der literarischen Hermeneutik verpflichtet ist. Das ist insofern lobenswert, als die Studie einen ersten Überblick über die Notorietät des Topos in der Literatur von der Antike bis heute aufzeigt und in diesem Zusammenhang Texte der deutschsprachigen Literatur diskutiert, die bislang der Aufmerksamkeit entgangen sind. Wer jedoch nach Anknüpfungspunkten zu Aspekten der aktuellen interdisziplinären Debatte zum Thema der Repräsentation sexueller Gewalt sucht - etwa aus der Geschlechterforschung, aus der feministischen Forschung in Literatur-, Rechtswissenschaft und Kriminologie, hinsichtlich der aktuellen Recht-und-Literatur-Debatte, der Körpergeschichte und der Traumaforschung -, wird enttäuscht. Vor diesem Hintergrund entpuppt sich auch Danes These, es gelinge der Literatur, "Darstellungsformen zu finden, die trotz ihrer Vielschichtigkeit und Indirektheit im Hinblick auf den zugrundeliegenden Sachverhalt stets ganz unzweideutig sind", als frommer Wunsch. Es sei unbestritten, dass es Texte gibt, die unmissverständlich eine Vergewaltigung darstellen. Doch lässt sich wohl kaum leugnen, dass gerade die Literatur wesentliche Stereotypen weiblicher und männlicher Sexualität und höchst ambivalente Verführungsszenarien entwickelt hat, deren Einfluss noch bis in die aktuelle Rechtspraxis hineinwirkt. Die Literatur ist keineswegs so "unschuldig", wie Dane sie hier darstellen möchte.


Titelbild

Gesa Dane: "Zeter und Mordio". Vergewaltigung in Literatur und Recht.
Wallstein Verlag, Göttingen 2005.
312 Seiten, 32,00 EUR.
ISBN-10: 3892448612

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