Das gekünstelte Leben

Antonio Tabucchi sucht sich in den Spiegeln der Schrift

Von Maximilian ProbstRSS-Newsfeed neuer Artikel von Maximilian Probst

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Roman lässt sich bekanntlich über alles und jeden schreiben. Das hat nicht zuletzt die Reihe der Romane über die Unmöglichkeit des Schreibens eines solchen eindrucksvoll belegt. "Tristano stirbt", das jüngste Werk des italienischen Schriftstellers Antonio Tabucchi, ist ein verwandter Fall: Es ist ein Roman über die Unmöglichkeit, keinen Roman zu schreiben - dann jedenfalls, wenn das Leben, und sei es das eigene, zur Sprache kommen soll.

Neu ist das natürlich nicht. Dass Fiktionen ein Fakt des Lebens, Fakten und Fiktion mithin nicht zu trennen sind: wir wissen es, spätestens, seit Friedrich Nietzsche. Nichts Neues also, aber das weiß auch Tabucchi, wenn ihm die Worte des Protagonisten zugeschrieben werden dürfen: "Ich habe dir eine alte Geschichte erzählt, die GESCHICHTE hat uns diese Geschichte in tausend Varianten erzählt, die Arme, wie uns Menschen stehen auch ihr nicht sehr viele Möglichkeiten zur Verfügung, wie, glaube ich, jemand gesagt hat [...]". Ein Wagnis immerhin: hellhörig ein altes Leierlied anstimmen.

Tabucchis Reflexionsbemühungen verführen ihn zu einer vertrackten Konstruktion: Ein Schriftsteller sitzt protokollierend am Sterbebett eines Alten, Tristano. Der monologisiert, meist unter Morphiumeinfluss, über sein Leben und den Sinn von Leben überhaupt. Dies aber tut er im Hinblick auf das Buch (wir halten es bereits in Händen), das der Schriftsteller über ihn schreiben soll. Hinzu kommt: der Schriftsteller hat schon einmal ein gefeiertes Buch über Tristano geschrieben, über dessen heldenhafte Rolle im Partisanenkrieg. Tristano stützt sich in seiner Erzählung auch auf dieses Buch. Und: Tristano hat sich selbst einmal literarisch betätigt, ist selbst ein homme de lettres, verstrickt in die Fänge der Literaturgeschichte, die er zuweilen für die Fäden seines Lebens nimmt. Kunst, wie man sieht, so weit das Auge reicht. Der Autor aber, Tabucchi, hat es sich nicht nehmen lassen, zu behaupten, das Werk sei der Roman seines Lebens.

Gut ist das Buch allerdings nur dann, wenn Tabucchi vergisst, aus dieser Ausgangssituation Profit zu schlagen; wenn er einmal nicht beiläufig ein literaturwissenschaftliches Problem einzuflechten versucht; wenn er davon absieht, uns die Nähe der Gegensätze ironisch vor Augen zu führen (- "unser Gesetz ist die Freiheit, und ernst ist der Gedanke den wir im Herzen tragen [...] Aber gib mir zuerst noch die Urinflasche"); wenn das postmoderne Geplapper über die unauflösbare Verquickung von Literatur und Leben, über die Verwandtschaft von Literatur und Tod verstummt; kurz: wenn Tabucchi Abstand nimmt vom Anspruch, Avantgarde zu sein. Für Momente fließt dann die Erzählung, und der Leser gerät in den Sog der Bilder, die abgründiger sind als jede Reflexion.

Zentral sind in Tristanos Erinnerungsfetzen seine Kriegserlebnisse als Dissident und Partisan. Alles weitere bleibt auf diese Erlebnisse bezogen - zuerst und unmittelbar die Geschichte seiner Beziehung zu den beiden Frauen, die sein Leben weitgehend bestimmen. Aber auch das soziale und ideelle Leben, das Tristano nach dem Krieg führt; ein zurückgezogenes Leben, so gottverlassen, wie die Orte des Mittelmeerraums von Griechenland bis Spanien, an die es ihn im Laufe seiner Liebesbeziehungen verschlägt und deren Stimmung Tabucchi so meisterhaft mit wenig Worten einzufangen weiß.

Diese Kostproben seiner Meisterschaft lassen den Leser allerdings nur um so deutlicher spüren, was ihm vorenthalten wird. Hätten doch die reflexiven Einschübe die Erzählung strukturiert wie Pausen die Musik. Bild und Handlung verkehren sich aber bei Tabucchi zum Atemholen der Reflexion. Und die dreht sich letztlich immer um denselben Gegenstand: um Literaturwissenschaft. Der Roman seines Lebens, würden böse Zungen sagen, sei ein Werk seines universitären Lebens - ein paar Proseminare zur dekonstruktiven Lektürepraxis habe der Professor aus Siena da verwurstet: "Gehören die Dinge dem, der sie sagt, oder dem, der sie niederschreibt?" heißt es dann und Tristano fügt an: "Denk ruhig darüber nach, denn mir ist das mittlerweile egal". Dem Leser, leider, plötzlich auch.


Titelbild

Antonio Tabucchi: Tristano stirbt. Roman.
Übersetzt aus dem Italienischen von Karin Fleischanderl.
Carl Hanser Verlag, München 2005.
227 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3446206639

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