"Ich schreibe wie ein Schwein"

Die neue Nietzsche-Gesamtausgabe lässt den großen Stilisten aussehen wie einen Kritzler

Von Ludger LütkehausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ludger Lütkehaus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Diese Welt ist der Wille zur Macht- und nichts außerdem! Und auch ihr selber seid dieser Wille zur Macht - und nichts außerdem!"

"Ich verstehe unter 'Moral' ein System von Wertschätzungen, welches mit den Lebensbedingungen eines Wesens sich berührt."

"Indem ich dich vernichte Hohenzollern, vernichte ich die Lüge."

Drei Sätze desselben Autors, angeblich sogar die Schlusssätze desselben Werks. Der erste entstammt der postumen Ausgabe von Friedrich Nietzsches so genanntem Hauptwerk, dem "Willen zur Macht", die das Weimarer Nietzsche-Archiv unter Leitung von Nietzsches Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche erstmals 1901, dann in zahlreichen weiteren Ausgaben, mal 483, mal 1067 Aphorismen umfassend, besorgt hat. Der zweite "Schlusssatz" ist in Karl Schlechtas Ausgabe von 1956 enthalten, die nur noch chronologisch geordnete Manuskripte unter dem nüchternen Titel "Aus dem Nachlass der Achtzigerjahre" bot. Der dritte "Schlusssatz" steht in der von Giorgio Colli und Mazzino Montinari seit 1967 herausgegebenen "Kritischen Gesamtausgabe".

Die Unterschiede sind schwerwiegend. Leser, die mit den Tücken der Philologie nicht vertraut sind, könnten spätestens hier den Glauben verlieren und desillusioniert feststellen, dass Editionen immer schon Interpretationen und manchmal auch Manipulationen sind. "Der Wille zur Macht interpretiert", so Nietzsche selber; ergo: Der Wille zur Macht ediert?

Elisabeth Förster-Nietzsche jedenfalls war das Gegenteil von dem, was man sich unter einer seriösen Herausgeberin vorstellt: ohne jeden Respekt vor dem überlieferten Text, dafür begabt mit eindrucksvollen kriminellen Energien. Das Weimarer Nietzsche-Archiv - eine Fälscherwerkstatt. Doch erst die Ausgabe des ehemaligen Archivmitarbeiters Karl Schlechta und dann vor allem die "Kritische Gesamtausgabe" von Colli und Montinari enttarnten das Machwerk. Sie gilt mit Recht als epochemachende Leistung. Sie hat Nietzsche von der Verfälschung zu einem rassistischen, antisemitischen Propheten des Nationalsozialismus befreit und die Textgrundlage für die weltweite Nietzsche-Renaissance der letzten Jahrzehnte geschaffen. Die Nietzsche-Philologie wurde zu einer großartigen Ausnüchterungskur.

Aber auch Colli und Montinari haben die nachgelassenen Fragmente - Notizbücher, Arbeitshefte, Loseblattsammlungen - entgegen ihrer Ankündigung nicht so dokumentiert, wie sie "in den Handschriften vorliegen". Sie haben zwar keine systematische, aber eine von ihnen nur vermutete chronologische Ordnung hineingebracht. Und ausgeschlossen wurden alle "Notizen und Bemerkungen von äußerlichem und zufälligem Inhalt..." - äußerst dehnbare Begriffe. Nietzsche wurde dadurch rationaler, linearer, ordentlicher präsentiert, als er in Wahrheit war. Das Prädikat einer den Handschriften folgenden Edition verdient auch diese heute nahezu sakrosankte Ausgabe nicht.

Das jetzt zu erfahren, ist für die breitere Nietzsche-Leserschaft vermutlich eine gewisse Sensation, auch Provokation. "Wahrheiten", so Nietzsche, "sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind." Ausgerechnet aufgrund einer neuen Nietzsche-Edition desselben Verlags, besorgt von einem Teil der Herausgeber, die schon an der alten Ausgabe mitgearbeitet haben, müssen die Leser umlernen. Der gesamte Nachlass von 1885 an, aus der Zeit nach dem "Zarathustra", also genau das Material, aus dem der "Wille zur Macht" zurechtgefälscht wurde, wird nun neu herausgebracht. Vor vier Jahren sind die Notizhefte "N VII, 1 bis 4", wie es in konzessionsloser Nüchternheit heißt, in drei Bänden erschienen. Jetzt, mit dem vierten und fünften Band, ist die Veröffentlichung der Arbeitshefte, die Nietzsche zur Ausarbeitung seiner Konzepte dienten, begonnen worden.

Die Bände sind schon von ihrem Großformat her Monumente. Nietzsches Neigung zum Pathos, zur Selbstinszenierung, zur Denkmalbildung scheint ihren formalen Ausdruck gefunden zu haben, die philologische Ausnüchterungskur wieder in Monumentalisierung umzuschlagen. Doch wie anders sieht es innen aus! Die Bände bieten nun tatsächlich eine diplomatisch treue Transkription der Manuskripte mit allen Korrekturen, Streichungen, Verbesserungen und Verschlimmbesserungen, die Nietzsche selbst vorgenommen hat, akkurat in der Folge, die die Hefte vorgeben, zur Not auch von hinten nach vorne, von rechts nach links, mit Schrägzeilen und Wellenlinien in genauer räumlicher, "topographischer", nicht chronologischer Wiedergabe - und mehr als einmal stehen die Texte sogar auf dem Kopf.

Ein einziges Chaos, ein unablässig durchkreuzter Schreibstrom, ein konvulsivisches Zucken, ein Exzess an Ruhelosigkeit. Nietzsches bängliche Frage in einem Brief an den Freund Franz Overbeck ist nur allzu berechtigt: "Ist es jetzt deutlich zu lesen? Ich schreibe wie ein Schwein." Und nicht nur wie ein Schwein. Der Schreiber scheint schon vor seinem Zusammenbruch in Turin verrückt zu sein.

Um Deutlichkeit in das Gewirr zu bringen, werden nicht weniger als fünf Schrifttypen und insgesamt sieben Farben zur Wiedergabe der diversen Tinten und Schreibstifte aufgeboten, bis hin zu einem Grün, das die Herausgeber mit dem gut entwickelten Sinn für die Eschatologie der letzten philologischen Dinge die "Tinte der letzten Korrektur" nennen. Vorgelegt wird das Dokument einer ins Extrem getriebenen editorischen Treue. Nur die Faksimiles wird man im Druck vermissen. Sie sind auf eine beigefügte CD-ROM verbannt. Besser wäre man dem maßstabsetzenden Verfahren der großen Ausgaben des Stroemfeld-Verlags gefolgt, das die Faksimiles voranstellt, weil nur so die Transkription unmittelbar überprüft werden kann. Hier geht die Ausgabe nicht weit genug.

Aber lohnt denn der riesige Aufwand überhaupt? Macht die Philologie, die den Lesern suggeriert, sie könnten "unmittelbar zu Gott", zu den Manuskripten sein, Nietzsche nicht in Wahrheit zur elitären Sache der Spezialisten? Wird hier nicht die Kontur eines Autors bis zur Unkenntlichkeit aufgelöst durch eine Edition, die die Klage aus Hugo von Hofmannsthals Chandos-Brief als Handlungsanweisung für Herausgeber missverstanden zu haben scheint: "Mein Fall ist, in Kürze, dieser: Es ist mir völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen. [...] Die [...] Worte zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze. [...] Es fiel mir alles in Teile, die Teile wieder in Teile, und nichts mehr ließ sich mir einem Begriff umspannen."

Statt eines vormals große Stilisten, der an seinen Sätzen meißelte, nur noch der "Kritzler" Nietzsche? Derjenige, der "mit dem Hammer" philosophieren wollte, seinerseits in tausend Scherben zerhämmert? Die unfreiwillig ironische Pointe könnte dann die sein, dass man sich unverhofft wieder nach dem ganzheitlich-monumentalen Machwerk der Schwester zu sehnen begänne.

In der Tat ist die neue Ausgabe buchstäblich zersetzend. Die philologische Ausnüchterungskur mündet in eben jene "Dekonstruktion", deren philosophischer Stichwortgeber Nietzsche war - die Editionsgeschichte als Nemesis. Der "Autor" und das "Werk" werden mir rigoroser Konsequenz liquidiert. Der "Wille zur Wahrheit", heißt es in Arbeitsheft "WI 7" mit etlichen Überschreibungen und Korrekturen, den die "Philosophen und wissenschaftlichen Menschen" hegen, ist vielleicht nichts anderes als die wissenschaftliche Form des "Willens zum Tode". "Die heiligen Bücher", zu denen Nietzsche die seinen durchaus zählte, "gerieten endlich in die Hände der Philologen, das heißt der Vernichter jeden Glaubens, der auf Büchern beruht."

Gerade so aber ist die Ausgabe auch nur die letzte Schlussfolgerung aus einer Editionsgeschichte, die mit einer Fälschung begann und mit einer radikalen Richtigstellung endet: Der Wille zum Text triumphiert über den "Willen zur Macht". Die paradoxe Logik dieser Geschichte ist schwerlich zu überbieten: Ein Autor, der selbst ein exzellenter Philologe war; der die Philologie schmähte und feierte; der zum Tummelplatz krassester Antiphilologie wurde, erlebt einen Exzess an Philologie.

Der philosophische und psychologische Ertrag lohnt um so mehr. Wenn der "rastlose Wille zur Macht" nichts anderes als der Wille "zur beständigen Schöpfung oder zur Verwandlung oder zur Selbstüberwältigung" ist, so "Arbeitsheft WI 3", dann kann man ihn nur in seinem Verwandlungschaos und in seinen unablässigen Selbstkorrekturen suchen. Und wenn sich "das Subjekt als Vielheit" versteht, so wieder "Arbeitsheft WI 7" mit einer Betonung, die Colli und Montinari den Lesern vorenthalten haben, dann darf man es nicht auf die Monologik des cartesianischen Ichs und den Satz vom zu vermeidenden Widerspruch trimmen. Einen Text ohne Verschreibungen, die autoritative Reinschrift des Lebens gibt es nicht.

Zu guter Letzt bleibt den Lesern auch der Humor der Sache nicht vorenthalten. Nun stehen am Schluss von "Notizheft VII 3" nach einer rigorosen Abrechnung Nietzsches mit den Antisemiten diverse Ermahnungen an sich selbst: "Wasser trinken! Nie Spirituosa. [...] Abends warme Kleider" Und in "Notizheft VII 2" findet sich zwischen dem blau notierten "Willen zur Macht" eine schwarz geschriebene "Zahnbürste" nebst einer Adresse für den Erwerb derselben, gefolgt von einer ebenfalls schwarz geschriebenen "Kleiderbürste". Wenn Nietzsche schon schreibt "wie ein Schwein", dann wird der Wille zur Macht mit Hilfe von Zahn- und Kleiderbürste wenigstens für einen Moment zur parodistisch geglückten "Selbstüberwältigung" gebracht.


Titelbild

Friedrich Nietzsche: Werke. Kritische Gesamtausgabe. Abt. 9, Bd. 4. Der handschriftliche Nachlass ab Frühjahr 1885 in differenzierter Transkription.
Herausgegeben von Marie-Luise Haase und Martin Stingelin.
De Gruyter, Berlin 2005.
368 Seiten, 99,99 EUR.
ISBN-10: 3110161796

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Friedrich Nietzsche: Werke. Kritische Gesamtausgabe. Abt. 9, Bd. 5. Der handschriftliche Nachlass ab Frühjahr 1885 in differenzierter Transkription.
Herausgegeben von Marie-Luise Haase und Martin.
De Gruyter, Berlin 2005.
290 Seiten, 99,99 EUR.
ISBN-10: 3110180480

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