Czernowitz als Mnemotop

Ein Sammelband beleuchtet die "Geschichte einer untergegangenen Kulturmetropole"

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die mythische Topographie Czernowitz' weiß von einer stark jüdisch geprägten osteuropäischen Stadt vorwiegend deutscher Kultur, in der sich die verschiedensten kulturellen Elemente wie in einem Schmelztiegel mischten. Das Pittoreske daran wurde gelegentlich so stark empfunden, dass es mit herablassendem Amüsement registriert wurde, zuletzt allerdings überlagert durch die Scham angesichts der Verfolgung und Ermordung der Juden im Zweiten Weltkrieg durch das nationalsozialistische Deutschland und seine Verbündeten.

Im 19. Jahrhundert hat der Schriftsteller Karl Emil Franzos in gewollt paradoxer Überspitzung die Stadt Czernowitz als ein Schwarzwalddorf, ein podolisches Ghetto, eine kleine Wiener Vorstadt, ein Stück tiefstes Russland und ein Stück modernstes Amerika charakterisiert, und die Vielfalt wie Widersprüchlichkeit in Sprache und Kultur, Kunst und Literatur, in Tradition und Innovation hat die Vielvölkerstadt in der Bukowina, dem Buchenwald, von jeher ausgezeichnet. Geographisch als Grenzland der Hegemonie und dem Einfluss der polnischen, russischen und osmanischen Nachbarn ausgesetzt, wurde die Stadt im 18. Jahrhundert Teil des habsburgischen Reichs, und mit den neuen politischen Herren kamen jüdische Siedler in die Stadt und ihre Umgebung. Sie stifteten in der wechselvollen Geschichte der Stadt Kontinuität und waren zugleich Protagonisten des Neuen. Die Sprache des jüdischen Mittelstandes war Deutsch, und auf Deutsch haben sie die Bilder gezeichnet, die Helmut Braun neben vier weiteren Autoren in der von ihm edierten "Geschichte einer untergegangenen Kulturmetropole" versammelt.

Die Einleitungen von Peter Rychlo und Mariana Hausleitner skizzieren die wechselvolle Geschichte Czernowitz', vornehmlich ihres jüdischen Bevölkerungsanteils. 1775 fiel der Nordteil des späteren Fürstentums Moldau, die Bukowina, zusammen mit Galizien um die Hauptstadt Lemberg herum an Österreich. Czernowitz war eine winzige, primär ländlich orientierte Stadt, die allerdings durch die alsbald in großer Zahl einwandernden Juden schnell wuchs. 1848 wurde die Bukowina eigenständiges österreichisches Kronland, Czernowitz wurde dessen Hauptstadt, der Aufschwung nahm weiter zu, insbesondere als die Juden 1867 rechtlich gleichgestellt wurden und auch Grund und Boden erwerben konnten. Der rasch anwachsende jüdische Bevölkerungsanteil (1848: 6,5 Prozent; 1857: 12,8 Prozent; 1910: über 30 Prozent) orientierte sich an der deutschen Kultur, Wien war das große Vorbild - an der 1875 gegründeten Franz-Josephs-Universität stellten die jüdischen Studenten im Jahre 1904 bereits vierzig Prozent. Ihre Beteiligung an Politik, Verwaltung, Gerichts- und Bildungswesen und sogar an der Armee war selbstverständlich.

Allerdings war die jüdische Bevölkerung alles andere als einheitlich. Bereits die aufklärerische Politik Kaiser Josephs II. wirkte gegen die chassidisch geprägte Orthodoxie, aber vor allem bürgerliche Gleichstellung und stetig wachsender Wohlstand führten zu einer breiten Akkulturationsbewegung. Der um 1890 einsetzende Nationalismus im deutschen, rumänischen und ruthenischen (oder ukrainischen) Bevölkerungsanteil bewirkte mit seinem Korrelat, dem Antisemitismus, eine weitere Ausdifferenzierung auf jüdischer Seite: So bildeten sich die zionistische und die kommunistische Bewegung im Judentum. 1918 fiel die Bukowina an das zentralistisch regierte Rumänien, aus der deutschen Universität wurde eine rumänische, die antisemitische Atmosphäre nahm zu; dennoch blühte das jüdische kulturelle Leben in deutscher und jiddischer Sprache. Im Sommer 1940 fiel Czernowitz an die Sowjetunion. Die in dieser Zeit einsetzende ethnische "Homogenisierung" der Bukowina begann mit der Umsiedlung der Deutschen (durch Himmlers "Volksdeutsche Mittelstelle"). Nach dem Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion, als die Bukowina wieder rumänisch wurde, nahmen die Morde und Deportationen zu - von den ungefähr einhundertzwanzigtausend Juden der Bukowina überlebten nicht einmal ein Drittel. Bis 1944 wurde durch die verschiedensten Aktionen der "Purifizierung" beinahe die gesamte ehemalige Bevölkerung der Stadt Czernowitz getötet oder vertrieben.

Die deutsche Sprache ist durch das Czernowitzer Judentum um weitere Dimensionen bereichert worden, vor und nach der versuchten Ausrottung. Paul Celan und Rose Ausländer sind die bekanntesten Dichter, Immanuel Weißglas, Selma Meerbaum-Eisinger, Alfred Margul-Sperber und Alfred Gong kämen hinzu. Peter Rychlo unterstreicht, dass die meisten dieser Dichter aus akkulturierten jüdischen Familien stammten, die schon längst für die deutsche Sprache und Kultur optiert hatten und diese als ein unaustauschbares geistiges Element betrachteten. Von der Fülle geistiger Interessen Czernowitzer Bürger nach dem Ersten Weltkrieg weiß Rose Ausländer zu berichten: "Hier gab es: Schopenhauerianer, Nietzscheanbeter, Spinozisten, Kantianer, Marxisten, Freudianer. Man schwärmte für Hölderlin, Rilke, Stefan George, Trakl, Else Lasker-Schüler, Thomas Mann, Hesse, Gottfried Benn, Bertolt Brecht. Man verschlang die klassischen und modernen Werke der fremdsprachigen, insbesondere der französischen, russischen, englischen und amerikanischen Literatur. Man huldigte selbstlos und mit vehementer Begeisterung". Nicht zu Unrecht meint Andrei Corbea-Hoisie, dass die Blüte der Czernowitzer Dichtung nicht zufällig erst unter rumänischer Herrschaft in der Bukowina einsetzte. Sie war, mit den Worten Rychlos, "der Versuch einer kumulativen geistigen Kompensation jener spürbaren Verluste, die das Czernowitzer Judentum in Wirtschaft, Handel und Gewerbe unter dem rumänischen Druck erlitt".

Den Höhepunkt ihrer Entwicklung ereichte die deutschsprachige Literatur der Bukowina aber nach der Shoah. Sie artikuliert sich dort, wo sie schweigen müsste: nach der Trennung von Wien (Verlust der Sprache) und unter existentieller Bedrohung (Verlust des Lebens). Angesichts dieser existentiellen Traumata verloren viele Begriffe ihren Sinn. "Nah und unverloren", sagt Paul Celan 1958 in seiner Rede zur Entgegennahme des Bremer Literaturpreises, "blieb inmitten der Verluste dies eine: die Sprache". So erinnert sich z.B. der ungarische Schriftsteller aus Rumänien János Szasz, der einmal Paul Celan in Paris besuchte, dass dieser immer wieder betonte, "wie sehr seine sprachliche Isolierung der Ausarbeitung der dichterischen Sprache diene. Celan glaubte in seinem schizophrenen Verfolgungswahn durch seine Pariser Isolierung die Bukowiner Situation neuerschaffen, stabilisieren zu können".

Auf einen interessanten Aspekt hinsichtlich der Publikationsbedingungen der Czernowitzer Dichter macht Helmut Braun in seinem Beitrag aufmerksam. Da es kein Verlagswesen gab und Bücher faktisch im Selbstverlag erschienen, wurden in der Zwischenkriegszeit von den heute bekannten, teilweise berühmten Czernowitzer Dichterinnen und Dichtern nur acht Bücher in Kleinstauflagen von 200 bis 400 Exemplaren veröffentlicht. Berücksichtigt man ferner, dass die junge Generation der Dichter in Czernowitz gar nicht publizierte - der junge Celan vervielfältigte seine Gedichte von Hand und verteilte sie an seine Freundinnen - stellt sich mit Braun die Frage, welche Basis der Ruhm von Czernowitz als Literaturstadt hat. "Nüchtern müssen wir feststellen, dass Czernowitz von den Werken profitiert, die Paul Celan, Rose Ausländer, Alfred Gong und andere schufen, nachdem sie ihre Stadt längst verlassen hatten. Wäre es bei den Gedichten geblieben, die sie in Czernowitz schrieben, dann wäre Czernowitz heute nur eine Randnotiz der Literaturgeschichte. Allerdings ist einzuräumen, dass sie alle als Persönlichkeiten durch das besondere Lebensumfeld in Czernowitz entscheidend geprägt worden sind, unglücklicherweise auch durch die dort erlittene Shoa, die eine zerstörerische Spur in ihre Gedichte brannte".

Heute ist Czernowitz eine Provinzstadt in der Ukraine, und wie sie in der Endphase der Sowjetherrschaft aussah und jetzt aussieht, zeigen über 100 teils schwarzweiße, teils farbige Fotos. Mit dem Ziel, in die Kulturerbeliste der UNESCO aufgenommen zu werden, begann 1999 die bis heute anhaltende Renovierung der Altstadt, wurden Denkmäler für bedeutende Künstler der Stadt errichtet und wird auch die Geschichte der einstigen Kulturmetropole wieder stärker ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Das in der Vergangenheit gedichtete Wort bleibt, zeugt von früherem Leben und weist darüber hinaus. Czernowitz ist, dank der bedeutenden Schriftstellerinnen und Schriftsteller, zu einem Topos der Literatur geworden, den es künftig mehr denn je zu bewahren und für künftige Generationen zu erschließen gilt.


Titelbild

Helmut Braun (Hg.): Czernowitz. Die Geschichte einer untergegangenen Kulturmetropole.
Ch. Links Verlag, Berlin 2005.
180 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-10: 386153374X

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