Die Familie als Heimat des Schreckens

Lee Hye-Kyoungs Roman einer notwendigen Entfremdung

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Lee Kiljung kann stolz auf sein Leben sein. Mit Fleiß und anständiger Arbeit aus dem Nichts eine Eisenfabrik aufgebaut, immerhin vier Söhne (eine Tochter noch dazu), Grundstücke, ein kleines Vermögen. Man gehorcht ihm, nach einigem Widerstand hat sich sogar der zweite Sohn dem vom Vater abgesteckten Lebensplan unterworfen. Gleichzeitig jedoch zerrinnt alles. Der stets gehorsame - und deshalb vom Vater insgeheim ein wenig verachtete - älteste Sohn hat nun die Fabrik übernommen und schließt sie, lebt von Mieteinnahmen. Der zweite Sohn quält sich in der arrangierten Ehe und der jüngste hat sich nach dem Studium wie ein Flüchtling in eine Art Landkommune zurückgezogen, die abseits der modernen südkoreanischen Wirtschaft ein besseres Leben ohne gegenwärtige städtische Hektik und vergangene kleinfamiliäre Tyrannei vorwegzunehmen versucht. Die Tochter versorgt aufopferungsvoll die Eltern, weit übers übliche Heiratsalter ohne eigenes Lebensglück oder -unglück. Die Ehefrau schließlich, nach unendlichen Prügeln und Demütigungen, ist zunehmend umnachtet und irrt tagelang orientierungslos durch die Großstadt Seoul. Derweil verrottet das "Haus auf dem Weg", das dem Roman von Lee Hye-Kyoung den Namen gibt; vom Vater besonders stabil gebaut, ist es seit einem Hochwasser von Moder befallen und zerfällt, als Sinnbild seiner Pläne, noch zu seinen Lebzeiten.

Der Vater verkörpert den Aufstieg der Familie und, noch im Erfolg, ihr Elend. Bei aller Stärke ist er ein schwacher Gewalthaber - der zumal die älteren Söhne in Lebensbahnen zwingt, die ebenso ihnen Unglück bringen wie ihm selbst. Das Motiv ist in Südkorea verbreitet; in Vorabendserien sieht man mächtig tobende Väter, die mit ihren Entscheidungen die ganze Umgebung in Tränenfluten tauchen, deren Wüten zuletzt doch erfolglos ist. Der Widerspruch ist Zeichen eines erfolgreichen Umbruchs; die Väter (und mit ihnen die Mütter) haben es materiell geschafft, haben ihre Bedürfnisse und die der anderen unterdrückt, als Voraussetzung jeder erfolgreichen Industrialisierung. In der Konsumgesellschaft aber treten die ganz groben Mittel, mit denen in elenderen Weltgegenden patriarchale Macht behauptet wird, allmählich in den Hintergrund.

Derlei historische Einordnungen interessieren die Autorin Lee Hye-Kyoung kaum. Ihr Buch ist im koreanischen Original im selben Jahr 1995 erschienen wie die gleichfalls im Pendragon Verlag vorliegenden Bände "Das Zimmer im Abseits" von Shin Kyongsuk und "Ein Geschenk des Vogels" von Eun Heekyung. Auf drei ganz unterschiedliche Weisen verkörpern die Romane eine Abwendung von einer didaktisch-politischen Schreibweise, wie sie die südkoreanische Literatur in den 70er und 80er Jahren dominierte. Mit der allmählichen Demokratisierung, einer Zivilisierung der Politik gingen klare Feindbilder verloren und richtete sich der Blick auf Machtstrukturen im Privaten.

Dabei ging es den Autorinnen zunächst ums Verstehen, nicht um ein Urteil. Der äußere Aufstieg und innere Zerfall der Familie Lee Kiljungs wird in "Das Haus auf dem Weg" aus verschiedenen Perspektiven geschildert. Allen Personen überlässt die Autorin das Wort, und alle haben auf verschiedene Weise recht. Sogar dem in Wort und Tun gewalttätigen Vater gilt keine eindeutige Verurteilung.

Ist das Milde, ist es im Gegenteil ein analytisch geschulter Blick, der sich auf Strukturen statt aufs individuelle Versagen richtet? Etwas wie ein sentimentaler Feminismus mag sich im Versuch der Autorin zeigen, Mutter wie Tochter in dieser verfahrenen Situation als liebevoll und schuldlos zu zeigen. Die Mutter erträgt, vermittelt, bis sie zuletzt durch die Hochhaushaufen einer Welt irrt, die sie nicht mehr versteht; die Tochter opfert sich durch die ganze Haupthandlung für die Eltern und Geschwister. Freilich: Ihr Opfer ist ein Sich-Entziehen. Sie entkommt so der Heirat mit groben Nachbarssöhnen, unter denen sie kaum froh geworden wäre, und damit einer normalen familiären Laufbahn, die das Elend wiederholen würde.

Im Prolog tritt sie nochmals anders auf. Die Mutter ist wiedergefunden und erholt sich im Halbschlaf - während die Männer streiten. Der älteste Sohn beschuldigt, ganz richtig, den Vater und erzwingt damit einen Disput, der die Kranke stört. Die Tochter mahnt nicht, nein: Sie nötigt sie Männer zur Ruhe, in einem für sie ganz neuen Ton. Das sprengt ihre Frauenrolle und bestätigt sie gleichzeitig: Denn es bedeutet Fürsorge, auf Kosten eines Konflikts über die unheilvolle Position des Vaters, der heilsam werden könnte.

Derart ambivalent sind Form und Inhalt eines Romans, der nicht nur für Südkorea wichtig war, sondern auch einem nostalgischen Blick auf die hierzulande untergehende Familienordnung Widerstand leistet. Raffinierte Zeitsprünge leisten ein Übriges, das Werden des Unglücks zu veranschaulichen und Lee Hye-Kyoungs Perspektive eine zeitliche Tiefe zu verleihen. Kaum je sind die Episoden, die sich von der Mitte der 70er Jahre bis in die frühen 90er hinziehen dürften, datiert; und auch in den einzelnen Abschnitten greift Lee kühn voraus und zurück. Das hat seine genaue Funktion. Die Zeit des Romans ist die seiner Personen - und für diese ist die Vergangenheit lebendige Gegenwart. Das kann zur Befreiung führen wie auch, beim zweiten Sohn, zu auswegloser Wut und zu Schlägen gegen die aufgezwungene, ungeliebte Ehefrau, die die Gewalt reproduzieren und in die nächste Generation weitertragen.

Leider ist die Übersetzung nicht durchgehend auf der Höhe des Buchs. Die Formanlage, die Lee Hye-Kyoung gewählt hat, ist so subtil wie robust und ließ sich leicht ins Deutsche übertragen. Gegen die sprachliche Gestaltung lassen sich indessen leicht Einwände finden. Das gilt zuletzt für die Metaphorik, die offensichtlich eng ans koreanische Original angelehnt ist und im Deutschen Sprachbilder hervorbringt, die verwundern. Hier ist die Übersetzerin für ihren Mut zu beglückwünschen, das Fremde als fremd zu belassen und so erst die Chance zu neuen Eindrücken zu eröffnen. Manche Stilbrüche, Schwerfälligkeiten oder sogar grammatische Fehler sind jedoch schlicht einer bedenklichen Oberflächlichkeit geschuldet. Gute Erläuterungen wären für das Verständnis hilfreich; die vorliegenden aber sind zum Teil überflüssig, zum Teil oberflächlich. Zum Beispiel glaubt man gerne, dass die Benennungen "Herr Kiljung" für den Vater und "Frau Yun" für die Mutter sich koreanischer Tradition sperren - und hätte doch gerne gewusst, was die Tradition verlangt hätte und welche Wirkung die Neuerung hat. Das allzu kurze Nachwort hilft hier nicht und sonst zu wenig.

Eine Zweitauflage könnte und sollte hier Abhilfe schaffen; der Roman nämlich lohnt es. Auf ganz andere Weise markieren seine Zentralthemen Familie und Vergangenheit einen Stoff, der deutsche Leser in den letzten Jahren berührt hat: hier historisch kontaminiert durch die Frage nach der NS-Vergangenheit und die Frage, inwieweit Angehörige der eigenen Familie schuldig wurden. Dem Rezensenten ist das fremd, ihn interessieren historische Gegebenheiten und nicht, was irgendein Großpapa angestellt haben mag. Er sieht aber die Mehrheit, die ihn umgibt und für die Familie, bei aller Kritik, Bezugspunkt bleibt. Das ist die Lage, die Lee Hye-Kyoung in "Das Haus auf dem Weg" veranschaulicht: Familie, mag sie auch fürchterlich sein, ist doch vor allem unentrinnbar, fungiert als Fluchtpunkt des Subjekts in einer anonymisierten Moderne. Allein der jüngste Sohn in seiner Kommune gewinnt die Perspektive auf etwas, was das Zentrum des Romans überschreitet: auf eine freie Lebensgemeinschaft statt auf die Familie als Heimat des Schreckens.


Titelbild

Lee Hye-Kyoung: Das Haus auf dem Weg. Roman.
Übersetzt aus dem Koreanischen von Christina Youn-Arnoldi.
Pendragon Verlag, Bielefeld 2005.
283 Seiten, 18,50 EUR.
ISBN-10: 386532018X

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