Treffpunkt im Abstrakten

Gewohnt unterhaltsam erklärt Ernst Peter Fischer die verschränkte Welt der Moderne

Von Ariane GreinerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ariane Greiner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Die Wahrheit der Kunst verhindert, dass die Wissenschaft unmenschlich wird, und die Wahrheit der Wissenschaft verhindert, dass die Kunst sich lächerlich macht." Das Bonmot des Schriftstellers Raymond Chandler wird von Ernst Peter Fischer gerne zitiert, spiegelt es doch genau seine Auffassung vom Soll-Zustand kulturellen Schaffens wider. Der Nährboden für dieses sehr aktuelle Plädoyer einer Symbiose aus Naturwissenschaft und Kunst - zahlreiche Veranstaltungen und Symposien haben sich in den letzten Jahren mit diesem Thema beschäftigt - ist ein leidenschaftlich dualistisches Weltbild. Das reicht von der Einstein zu verdankenden Einsicht in die duale Natur des Lichts (das gleichzeitig Welle und Teilchen ist) bis hin zur Überzeugung, die der Autor in den Worten Martin Walsers wiedergibt: "Nichts ist ohne sein Gegenteil wahr."

In seinen eigenen klingt das so: "Das Licht der Welt versteht man (nur), wenn man sowohl von Teilchen als auch von Wellen spricht. Das Licht im Kopf versteht man (nur), wenn man sowohl die bewussten Gedanken als auch deren unbewusste Quellen kennt." Und weiter: "Die Kultur der Menschen versteht man (bestenfalls), wenn man sowohl ihre Ausdrucksformen in der Kunst als auch in der Wissenschaft kennt". Und schließlich: "Wer nur die Kunst versteht, versteht auch die Kunst nicht, und für die Wissenschaft gilt das gleiche."

In Fischers ebenso unterhaltsamem wie gehaltvollem Band "Einstein trifft Picasso und geht mit ihm ins Kino oder die Erfindung der Moderne", aus dem diese Zitate stammen, wimmelt es nur so vor Dichotomien wie Außenraum-Innenraum, Kausalität-Zufall, Finden-Erfinden, Rationales-Kreatives, die alle vor dem Hintergrund des großen Gegensatzpaares (Natur-)Wissenschaft und Kunst aufleuchten, das, so erfahren wir im Laufe des Buches, eigentlich gar kein Gegensatzpaar ist, sondern vielmehr zwei Seiten ein und derselben Medaille, die wir "Kultur" nennen.

Fischers These: Es ist kein Zufall, dass beide, Wissenschaft und Kunst, den Weg in die Abstraktion nahezu gleichzeitig gehen. Die spannende Suche nach der Quelle dieser "inneren Verwandtschaft", die zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Geisteswelt revolutionierte, führt zu Platon, Kepler, C.G. Jung und Piet Mondrian, vorbei an Goethe, Max Planck, Kandinsky, Heisenberg und anderen Vordenkern. Wie eng das "kulturelle Paar" Kunst-Wissenschaft zusammenhängt, wird an eindrucksvollen Beispielen demonstriert. Einsteins Idee der "Raumzeit" etwa wird anhand des Picasso-Gemäldes "Les demoiselles d'Avignon" erklärt, so dass auch überzeugte Physikbanausen verstehen, worum es im Kern geht.

Er wolle, so schreibt Fischer, "den Kubismus (...) und die Lust des Publikums auf ihn (...) nutzen, um Einsteins Gedanken zu verstehen." Charakteristika kubistischen Malens wie die Verschränkung von Vorder- und Hintergrund, ja eigentlich die Aufhebung derartiger Grenzziehungen, sowie die typisch kubistische Simultanperspektive, die es möglich macht, eine Figur gleichzeitig etwa von vorne und von der Seite darzustellen, dienen Fischer als Anschauungsmaterial für seine Erklärungen der Einstein'schen Ideen: "Die Zeit wird in Picassos Bild zum Raum", heißt es im Buch. Und: "Wer versuchen würde, die Personen und Gegenstände aus dem von Picasso gezeigten Zimmer zu entfernen, würde den Raum mitnehmen. Genau das sagt Einstein über die Welt." Dies ist nur ein Beispiel dafür, wie erfrischend unprätentiös im Buch mit dem großen Thema 'Abstraktion in Wissenschaft und Kunst' umgegangen wird.

Mit derlei Grenzüberschreitungen hat sich Fischer in der Vergangenheit nicht nur Freunde gemacht. Vor allem in den eigenen Reihen, zumindest in der Fraktion derer, die die heiligen Gefilde der Naturwissenschaften vor Verunreinigung durch Fremdpartikel aus so dubiosen Sphären wie der Kunst schützen wollen, herrscht die Meinung vor, dass man naturwissenschaftliches Verständnis ausschließlich über den steinigen Weg der Mathematik erlangen könne. Dem widerspricht Fischer vehement: Es komme nicht darauf an, eine wissenschaftliche Theorie in allen Einzelheiten zu verstehen (was, so möchte man ergänzen, für den Laien in der Regel ohnehin weder möglich noch nötig ist), sondern darauf, etwas davon zu verstehen. Dieses Etwas ist ein neues Ganzes, das für Fischer durchaus gleichberechtigt neben die Ganzheit der wissenschaftlichen Theorie selbst tritt, was diejenigen naturgemäß verärgern muss, die sich von konstruktivistischen Ideen ein für allemal verabschiedet haben. Dieses neue Ganze ist laut Fischer vergleichbar mit einem Kunstwerk, weswegen man "Wissenschaft als Kunst denken" müsse, um etwas von ihr zu verstehen (siehe Interview).

Und was er theoretisch fordert, wendet der Physiker und Biologe Fischer in seiner Arbeit als Wissenschaftsvermittler praktisch an - in seinen zahlreichen Veröffentlichungen genauso wie in seinen Vorlesungen zur Wissenschaftsgeschichte an der Universität Konstanz.

Wenn sich ein Wissenschaftler in die vermeintlichen Niederungen der Populärwissenschaft begibt, erregt dies das Misstrauen nicht nur konservativer Kollegen. Auch unter Journalisten gibt es einige, die immer noch glauben, dass der Sprung vom Elfenbeinturm dem Forscher notwendig das Genick brechen müsse. Anders sind haltlose Schmähungen wie "die Verwandlung von Bildung in Tratsch" (Ulrich Kühne in der SZ vom 8.12.2001 über Fischers 'Gegen-Schwanitz' "Die andere Bildung. Was man von den Naturwissenschaften wissen sollte") nicht zu verstehen. "Sein [Fischers, A.G.] Wille zur Verführung führt tief in die Wildnis metaphorischen Denkens", schreibt der Rezensent. Da ist sie also wieder, die biedere Trennung zwischen Fakten und Fiktionen, zwischen U und E, zwischen desinfizierter Wissenschaftlichkeit und wild wuchernder Metaphorik. (Wobei sich die Frage lohnt, wessen Metaphern hier wilder wuchern und wie man ihrer am besten Herr wird).

Solchen Verfechtern der Ghettoisierung wissenschaftlicher Erkenntnisse wünscht man von ganzem Herzen einen längeren Aufenthalt an einer amerikanischen Forschungsstelle, wie ihn Fischer in den 1970er Jahren für die Arbeit an seiner Dissertation in Biologie am California Institute of Technology nutzte. Im angelsächsischen Raum hat man traditionellerweise keinerlei Skrupel vor Verständlichkeit und Anschaulichkeit. Doch auch bei uns hat man inzwischen dazugelernt und honoriert jene besonderen publizistischen Vermittlungsleistungen mit diversen Publizistikpreisen. Das Publikum scheint auf solche Versinnlichung von zunächst Un-Sinnlichem wie Mathematik oder Physik geradezu gewartet zu haben, wie der reißende Absatz von im besten Sinne populärwissenschaftlichen Publikationen wie Albrecht Beutelspachers "Christian und die Zahlenkünstler" (C.H. Beck 2005), der vom Scientific American herausgegebene Band "Was macht das Licht, wenn's dunkel ist?" (Rowohlt TB 2005) oder auch der Bestseller "Der entzauberte Regenbogen" von Richard Dawkins (Rowohlt TB 2002) zeigt - ganz zu schweigen von der Fülle an gut lesbaren Einstein-Büchern im vergangenen Jahr. Doch, ganz klar: Wer sich vor wilden Metaphern fürchtet und Angst hat, bei der Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Themen mit dem hoch verdächtigen Erreger 'Lust' kontaminiert zu werden, dem sei von Büchern wie denen Ernst Peter Fischers dringend abgeraten!


Titelbild

Ernst P. Fischer: Einstein trifft Picasso und geht mit ihm ins Kino. Oder die Erfindung der Moderne.
Piper Verlag, München 2005.
254 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3492046827

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