Klassiker-Kompresse, oder: Wie man's nicht machen soll
Ein freudloses Unternehmen der "Neuen Zürcher Zeitung am Sonntag"
Von Arnd Beise
Meinrad Fleischmann ist führender Manager eines Schweizer Modeunternehmens und ein sympathischer Mittvierziger. "NZZexecutive" (der "Kaderstellenmarkt" der "Neuen Zürcher Zeitung" bzw. "NZZ am Sonnatg") veröffentlichte in der Ausgabe vom 21./22. Januar 2006 ein Interview mit dem Manager, in dem es um seinen Werdegang, seine Arbeit und seine persönlichen Vorlieben geht. Freimütig beantwortete Fleischmann alle möglichen Fragen; auf die Frage nach seinem Lieblingsbuch bekannte er: "Ich bin ein Banause! Seit rund zehn Jahren habe ich kein Buch mehr zu Ende gelesen."
Es mag an der in der Schweiz noch weiter als woanders verbreiteten Bildungsbürgerlichkeit liegen, dass sich Fleischmann deswegen als "Banause" fühlt. Auch in der Schweiz entkommt man den Zwängen der globalisierten Wirtschaft nicht, und so bleibt für die Lektüre kaum Zeit. Doch zugleich gibt es noch das Bedürfnis, mitreden zu können, zum Beispiel wenn man mit der Gattin des Direktors parlieren muss. Einem solchen Mann kann geholfen werden, dachte sich da wohl die "NZZ am Sonntag" und startete mit dem neuen Jahr eine Heftchen-Reihe, in der die zehn wichtigsten Klassiker der Weltliteratur "als exklusive Zusammenfassungen" vorgestellt werden.
Im "Editorial" begründet Redaktionsleiter Felix Müller die Initiative: "In unseren schnelllebigen Zeiten geht das Bewusstsein für Traditionen zunehmend verloren. Das ist keine sehr erfreuliche Entwicklung, weil eine Gesellschaft auf diese Weise ihr Gedächtnis verliert. Dies trifft im Speziellen für die Literatur zu. Wer kennt sie noch, die grossen Werke der Weltliteratur, wer kennt deren Verfasser?" Die Reihe "Klassiker der Weltliteratur kompakt" soll da helfen: "Wir präsentieren zehn der wichtigsten Werke der Weltliteratur in geraffter Form. Die Leserin oder der Leser erfahren auf einer überschaubaren Zahl von Seiten das Wesentliche über den Inhalt der Bücher, über die zentralen Themen, die Wirkungsgeschichte sowie die Biographie des Verfassers. Auf diese Weise wollen wir einen Beitrag zur Erhaltung der Überlieferung leisten und das Bewusstsein für die grossen Bücher der Menschheit lebendig erhalten."
Ausgewählt hat die Redaktion zehn Titel von Homers "Odyssee" bis zu Kafkas "Prozess". Über die Auswahl zu diskutieren ist müßig: Zweifellos handelt es sich durchweg um Meisterwerke der Weltliteratur, und "Macbeth" zum Beispiel mag für einen modernen Ökonomen wirklich interessanter sein als "Hamlet" oder "Romeo und Julia". Interessant ist immerhin, dass jeweils auch immer eine ganz bestimmte Ausgabe empfohlen wird, deren Verlag, Erscheinungsjahr und ISBN in der "Buchinformation" zu Beginn genannt wird. Ob sich die jeweiligen Verlage die Empfehlung durch Sponsoring der Reihe erkaufen konnten oder ob es sich um eine autonome Entscheidung der Redaktion handelt, ist nicht bekannt. Immerhin handelt es sich durchweg um exzellente (und gelegentlich auch sehr teure) Ausgaben: zum Beispiel die Edition der "Göttlichen Komödie" aus dem Klett-Cotta Verlag, die Winkler-Dünndruckausgaben von "Krieg und Frieden" bzw. "Madame Bovary" oder die Ausgabe der "Odyssee" aus dem Tusculum-Verlag. Am günstigsten kommen die Leser mit der empfohlenen "Macbeth"-Ausgabe aus dem Deutschen Taschenbuch Verlag weg.
An dem Wochenende, an dem sein Interview erschien, konnte Meinrad Fleischmann hoffen, alles "Wesentliche" über Dantes "Göttliche Komödie" zu lernen. Wie alle Hefte der Reihe enthält auch die Nr. 3 zuerst eine "Buchinformation", danach einige "Take-Aways", sodann eine Erklärung, "worum es geht". Es folgt der Hauptteil: das "Abstract" des Werks. Zum Schluss noch ein "zum Text" überschriebener Abschnitt, einer zum "historischen Hintergrund" und einer "über den Autor": insgesamt elf Seiten im Format DIN A 5, zusammen mit Umschlag, Reihenübersicht, Editorial und einer Reklameseite zu einer 16-seitigen Broschüre geheftet. Um den Klassiker "in geraffter Form" handelt es sich natürlich nicht, sondern um zusammengeraffte Sätze über einen Klassiker:
"Take-Aways" - das sind zwölf Merksätze, wie sie ein Abiturient womöglich auf ein paar Karteikärtchen notiert, um sie auswendig zu lernen. Zum Beispiel: "Dantes literarische Höllen- und Himmelfahrt von 1320 markiert den Anfangs- und zugleich den Höhepunkt der italienischen Literatur." (Den Rest von Boccaccio bis Eco können wir uns schenken?) "Bei seinem Hauptwerk setzt Dante konsequent auf die italienische Volkssprache statt auf das übliche Latein der Gelehrten." (Taten das auch andere?) "Das Werk besteht aus exakt 100 Gesängen, die aus drei Teilen zu je 33 Gesängen und einer Einleitung aufgebaut sind." (Stimmt.)
"Worum es geht"? Um "eine Abenteuerreise der besonderen Art", die durch die Hölle über den Läuterungsberg in den Himmel "direkt zu Gottes Herrlichkeit" führt. "Auf seiner Reise trifft Dante auf 600 Seelen aus Mythologie, Dichtung und Geschichte, die - je nach ihren Taten - grausig ausgemalte Bestrafungen und entsetzliche Qualen in der Hölle erdulden oder aber das Paradies betreten dürfen." Angeblich reiße das Werk "den Leser in einen aberwitzigen Strudel ausgefeilter Symbolik und kann mit einer aussergewöhnlichen sprachlichen Kraft aufwarten - auch wenn der immer gleiche Aufbau der Episoden für einen modernen Leser manchmal etwas ermüdend wirkt." Macht das neugierig?
Worum es tatsächlich geht, erfahren wir bestenfalls im folgenden, fünfeinhalb Seiten langen "Abstract", das eine schulmäßig gut gemachte Inhaltsangabe ist. Apropos: Wissen Sie, wer die drei größten Schurken aller Zeiten sind, die Luzifer in eigener Person quält? Es sind "Verräter" (während "sündige Liebespaare" bei Dante am wenigsten zu leiden haben), an erster Stelle natürlich Judas, die anderen beiden sind die Cäsar-Mörder Brutus und Cassius. Das gibt zu denken! - Am Ende der Jenseitswanderung erblickt das Ich Gott: "Ein strahlendes Licht", das Dante "nicht zu beschreiben" vermag. - Und was soll das Ganze?
Vielleicht antwortet der Abschnitt "Zum Text" darauf? "'Die Göttliche Komödie' ist ein nach strengen Richtlinien der Poetik komponiertes Gedicht von epischem Ausmass. Auffallend ist die häufige Verwendung der heiligen Zahlen 3 und 10, die auch in ihren Vielfachen 9 und 100 im Werk auftauchen" und so weiter: Das ist alles ganz richtig, aber sowas von dröge, dass man es nicht einmal als 'Schulwissen' denunzieren mag. Was hilft es uns zu wissen, dass in dem Werk eine ausgefeilte "Zahlensymbolik der Dreierpotenzen" existiert, wenn wir nicht erfahren warum und wozu? Vielleicht verraten es uns die folgenden sechs "Interpretationsansätze"?
Leider nicht, denn es handelt sich dabei nur um sechs weitere Merksätze (1. Dante versuchte mittelalterliche Scholastik und antike Mythologie zu verbinden; 2. Dante benutzte einen Ich-Erzähler; 3. der Ich-Erzähler lässt sich von Vergil führen; 4. die Höllenstrafen sollen eine "angemessene Vergeltung" für die irdischen Sünden sein; 5. Dante hatte ein geozentrisches Weltbild; 6. gute Menschen, die vor Christi Geburt gestorben sind, müssen nicht in die Hölle, dürfen aber auch nicht ins Paradies). Auch der "historische Hintergrund" bleibt diffus. Es wird uns erklärt, dass die "Scholastiker (abgeleitet von dem lateinischen Wort für 'Schule')" mittelalterliche Gelehrte waren, die "antike Ideen mit den Glaubenssätzen des Christentums harmonisch" verbinden wollten. Es wird uns erklärt, dass das ptolemäische Weltbild "die unbewegliche Erde in das Zentrum des Universums" stellte. Verstehen wir darum die "Göttliche Komödie" besser? Kaum, denn wir erfahren nicht, wie Dante zu den Scholastikern stand oder ob er einer war. Und dass Dante, der von 1265 bis 1321 lebte, wie uns die letzte Seite belehrt, also gut zweieinhalb Jahrhunderte vor Kopernikus und Galilei, das heliozentrische Weltbild noch nicht kannte und daher die Erde nicht um die Sonne kreisen ließ, sondern umgekehrt die Sonne um die Erde, ist so banal wie für eine genussvolle Lektüre der "Göttlichen Komödie" irrelevant.
Der Unterabschnitt zur "Entstehung der 'Göttlichen Komödie'" erwähnt lediglich, dass Dante seine "Commedia" zwischen 1307 und 1321 verfasst habe; und dass ihr das Beiwort "göttlich" von Boccaccio zugesprochen wurde. Die "Wirkungsgeschichte" beschränkt sich auf die Namen von ein paar Illustratoren und zwei Komponisten sowie einiger Schrifsteller pro und contra; es wird vermerkt, dass Stefan George, Peter Weiss und Samuel Beckett im Gegensatz zu Schiller und Goethe viel von dem Werk hielten.
Der arme Herr Fleischmann! Da hat er seit einem guten Vierteljahrhundert die Matura in der Tasche und bekommt jetzt Weltliteratur noch einmal im Stil von "Abiturwissen jetzt" verleidet. An keiner Stelle des Hefts wird etwas von der Faszination spürbar, die Dantes "Göttliche Komödie" seit Jahrhunderten ausübt.
Auch das Layout ist eine freudlose Angelegenheit: eine 'Bleiwüste', lediglich 'gespickt' auf jeder Seite mit einem zwischen die beiden Spalten platzierten kleinen blauen Kasten, der jeweils ein Zitat enthält. Warum wird eigentlich nicht eine der auf S. 13 erwähnten Interpretationen bildender Künstler abgedruckt? Tatsächlich gibt es nur die elf Kästchen mit zum Teil völlig nichtssagenden Zitaten (zum Beispiel: "Eilet zum Berg, euch von dem Fleck zu läutern, / Der euch noch immer Gottes Anblick hindert!"), und diese nicht einmal sinnvoll geordnet. Unter jedem Zitat steht eine Seitenzahl; die Seitenzahlen steigen an (11, 27, 29, 35 usw. bis 405) und suggerieren Herrn Fleischmann, dass es sich um chronologisch geordnete Zitate handelt. Aber weit gefehlt! Das erste Zitat stammt aus Band 1 (S. 11), das zweite aus Band 2 (S. 27), das dritte aus Band 3 (S. 29), das vierte wieder aus Band 1 (S. 35), wie das fünfte bis achte, dann folgt wieder eines aus Band 3, dann eines aus Band 2 und alles endet mit einem Zitat aus Band 1 (S. 405). Das Heft verschweigt, aus welchem Band, geschweige denn aus welchem Canto, die Zitate stammen. Unter "Buchinformation" wird den Lesern nicht mitgeteilt, dass die Ausgabe drei Bände hat (es wird sogar nur die ISBN des ersten Bands genannt, was ich nicht weiter kommentiere). Es wird ebenfalls nicht mitgeteilt, dass die empfohlene Gesamtausgabe insgesamt 89,50 EUR oder 158,90 CHF kostet; es wird noch viel weniger mitgeteilt, dass man dieselbe Übersetzung aller drei Teile (allerdings ohne den italienischen Originaltext) auch in einer sehr schön gemachten, gebundenen Ausgabe des Reclam-Verlags für nur 19,90 EUR bzw. 34,90 CHF ordern kann.
Die zusammenfassende Firma (www.getabstract.ch) wirbt damit, dass sie "alles zusammen fasst": "Wirtschaftsliteratur, Wissenschaftsliteratur, Weltliteratur". Sie fasst in der Tat Weltliteratur wie einen Gebrauchstext zusammen: Also ohne jedes Verständnis dafür, was "Literatur" von einem, sagen wir: wirtschaftswissenschaftlichen Sachtext unterscheidet. Das ist das gute Recht der Firma. Peinlich ist indes, dass die "Neue Zürcher Zeitung", die eines der besten Feuilletons deutscher Sprache pflegt, in der Beilage ihrer Sonntagsausgabe dergleichen verständnislose Langeweile druckt. Schädlich geradezu ist die Desavourierung eines großen Texts durch seine Misshandlung in der Beilage. Und ärgerlich ist die mangelnde redaktionelle Betreuung der gelieferten Dateien (sei es bei der Zulieferfirma oder bei der "NZZ am Sonntag").
Am Anfang des Canto III von Dantes "Inferno" betreten der Ich-Erzähler und sein Geleitsmann Vergil die Hölle. Über dem Eingangstor steht eine dunkle Inschrift: "Durch mich gelangt man zu der Stadt der Schmerzen, / Durch mich zu wandellosen Bitternissen, / Durch mich erreicht man die verlorenen Herzen..."; die Inschrift schließt mit dem göttlichen Vers: "Lasciate ogni speranza, voi ch' entrate": Lasst fahren alle Hoffnung, die ihr eintretet.
Ja, lasst fahren alle Hoffnung, liebe Leser, dass "Klassiker kompakt" euch ein Werk wie die "Göttliche Komödie" nahe bringen könnte oder euch gar anregte, "zum Originalwerk zu greifen und eines der Schlüsselwerke der Weltliteratur im Wortlaut zu lesen", wie Müller im Editorial meint. Es sei denn, ihr habt Zeit und Widerspruchsgeist genug, zu sagen: Das kann es doch nicht sein, was das Werk berühmt machte; ich muss selber nachprüfen, warum dieses mittelalterliche Epos noch heute begeistern kann und daher seinen Platz unter den zehn größten literarischen Meisterwerken verdient hat.
Lies nicht die Hefte zu "Macbeth", "Don Quijote" oder zur "Odyssee", solange du nicht ein für alle Mal von ihrer Lektüre abgeschreckt werden willst. Bete, lieber Leser, für die Seelen der "GetAbstract"-Mitarbeiter, die nach ihrem Ableben vermutlich im Inferno "ewig es bereuen" werden, dass sie Weltliteratur "freventlich mißhandeln" mussten, denn sie werden bestraft werden wie "ciascun che mal fiere", um es einmal wirklich mit Dantes "Wortlaut" zu sagen (DC, Inf. XI, 37). Tausend Mal härter aber werden die Anstifter dieses Unfugs bestraft werden, denn: "Giustizia mosse il mio alto fattore" (so steht es laut DC, Inf. III, 4 über dem Eingang der Hölle); und die Gerechtigkeit verlangt, dass die Verantwortlichen deutlicher bestraft werden als ihre Handlanger.