Begnadeter Geschichtenerzähler

Zum 80. Geburtstag von Siegfried Lenz am 17. März

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Siegfried Lenz ist einer der letzten großen Geschichtenerzähler, ein stilsicherer Traditionalist, ein schriftstellerisches Urgestein, das ganz der Kraft des Erzählens vertraut und zum Meister der "kleinen Tragödien" avancierte. Lenz neigt zum nordischen Understatement, ist ein verbaler Leisetreter - sowohl in seinen Büchern als auch in seinen Äußerungen als öffentliche Person.

Im Laufe seiner über fünfzigjährigen Tätigkeit als Schriftsteller hat Siegfried Lenz große öffentliche Anerkennung (u. a. die Ehrenbürgerwürde der Stadt Hamburg, Ehrendoktor der Universität Hamburg) und zahlreiche Literaturpreise erhalten. Aber kaum eine andere Auszeichnung hat ihn so erfreut und war gleichzeitig so sinnstiftend wie der ihm 1985 verliehene Thomas-Mann-Preis der Stadt Lübeck. Die bisweilen chronistische Funktion seiner Romane, der anzutreffende Hang zur epischen Breite und die geradezu innige Verschmelzung mit seinen Figuren ("Ich bin alle meine Figuren selbst.") verbindet ihn mit Thomas Mann ebenso wie der hanseatische Lebensraum und die Affinität zur sanften politischen Einmischung.

Siegfried Lenz wurde am 17. März 1926 als Sohn eines Zollbeamten im ostpreußischen Lyck geboren - unweit der masurischen Seenplatte, deren malerische Schönheit er in vielen Werken gepriesen hat und die ihn später zum sanften Mahner gegen die fortschreitende Umweltzerstörung werden ließ. Erst Flakhelfer, "Notabitur", dann bei der Marine im Einsatz, schließlich in Dänemark desertiert und in britische Gefangenschaft geraten: Siegfried Lenz'' Jugendjahre wurden durch den Zweiten Weltkrieg geprägt. Nach Kriegsende verschlug es ihn nach Hamburg, wo er Anglistik, Literaturwissenschaft und Philosophie studierte und zunächst Lehrer werden wollte. Ein doppelt glücklicher Umstand führte ihn dann in die Kulturredaktion der "Welt". Zum einen, weil er dort zu schreiben begann, zum anderen, weil er seiner damaligen Sekretärin näher kam. Seit 1949 war er mit der sieben Jahre älteren Liselotte ("Löchen") verheiratet, mit jener Frau, die die handschriftlichen Manuskripte seiner ersten Artikel abtippte und die Anfang Februar in Hamburg gestorben ist. Für Siegfried Lenz ein schwerer Schicksalsschlag.

Abwechselnd lebte Lenz mit ihr im Hamburger Ortsteil Othmarschen, in einem kleinen Dorf auf der dänischen Insel Alsen und im schleswig-holsteinischen Tetenhusen, immer im Dunstkreis der Küste - Handlungsschauplatz vieler Lenz''scher Werke.

Seit 55 Jahren Schriftsteller

Schon 1951 gab Lenz nach Erscheinen seines hochgelobten Erstlings "Es waren Habichte in der Luft" den Job in der Kulturredaktion auf. Vier Jahre später schuf er die unvergessliche Figur des Hamilkar Schaß, ein einfacher Mann aus Masuren, der erst spät das Lesen gelernt, dafür aber danach Bücher geradezu verschlungen hat und dessen Leben sich nur noch zwischen zwei Buchdeckeln abspielte. Den frühen Ruhm erwarb er sich durch diesen meisterlichen Erzählband "So zärtlich war Suleyken" (1955), sowie die nachfolgenden Bände "Jäger des Spotts" (1958) und "Das Feuerschiff" (1960).

Schon in diesen Frühwerken hat Lenz seinen Stil gefunden, den er - nur in Nuancen verändert - bis heute beibehalten hat. Siegfried Lenz'' Sprache, diese wohlausgewogene Balance zwischen überbordendem Erzählfluss und einfachem Vokabular, wurde zu einem Markenzeichen. Er hat so ein Massenpublikum erreicht, wie die Gesamtauflage von weltweit über 25 Millionen Exemplaren nachhaltig dokumentiert. Von seinen schriftstellerischen Anfängen bis heute hat er dem Haus Hoffmann und Campe die Treue gehalten, und seit mehr als 50 Jahren pflegt Lenz ein freundschaftliches Band zur Verlegerfamilie Ganske - eine Beziehung, die weit über das übliche Verhältnis Autor-Verlag hinausreicht.

Nie Figuren denunziert

Charakteristisch für Lenz ist auch, dass er nie eine seiner Figuren denunziert hat, dass er stets mit fühlbarer Anteilnahme sein gesamtes Personenensemble entwickelt hat. Selbst Figuren, deren Denkweisen ihm völlig fremd sind, wie beispielsweise der unsympathische Dorfpolizist Jepsen aus der "Deutschstunde", entwickeln eine authentische Eigendynamik. Der von Lenz verehrte William Faulkner hat einmal behauptet, dass in jedem Schriftsteller auch ein Pädagoge verborgen ist. Dies trifft fraglos auch für Lenz zu, ohne dass er allerdings mit dem erhobenen moralisierenden Zeigefinger aus den Büchern hervorschaut.

"Er ist ein geborener Sprinter, der sich in den Kopf gesetzt hat, sich auch als Langstreckenläufer zu bewähren", hatte Marcel Reich-Ranicki 1963 leicht despektierlich über Siegfried Lenz'' frühe Romane geurteilt. Eine der Fehleinschätzungen des spiritus rector des Literarischen Quartetts. Mittlerweile sind beide befreundet, und Reich-Ranicki hielt sogar 1985 die hymnische Laudatio bei der Thomas-Mann-Preisverleihung: "Siegfried Lenz ist es wie wenigen Schriftstellern unserer Epoche gelungen, in der erzählerischen Wiedergabe der Realität eine breite Leserschaft zu erreichen."

Geschichten und Geschichte

Tatsächlich hat Siegfried Lenz immer darauf beharrt, mit seinen Geschichten auch Geschichte zu erzählen. Am eindrucksvollsten gelang ihm dies im Roman "Deutschstunde" (1968) in der Darstellung des Konflikts zwischen dem Kunstmaler Nansen, der Emil Nolde nachempfunden ist, und dem tumben, obrigkeitshörigen Dorfpolizisten Jepsen, der in der NS-Zeit das gegen seinen Jugendfreund Nansen verhängte Berufsverbot unnachsichtig überwachte. Jepsens Sohn Siggi rollt diesen "Fall" in einer Strafarbeit mit dem Titel "Freuden der Pflicht" auf. Die "Deutschstunde" wurde in über 20 Sprachen übersetzt, mehr als zwei Millionen Mal verkauft und später (wie viele andere Lenz-Bücher) erfolgreich verfilmt.

Ein Roman soll - so hat es Siegfried Lenz 1992 in seinem Essayband "Über das Gedächtnis" zum Ausdruck gebracht - primär Erinnerungsarbeit leisten: "Es wird der Erzähler sein, der uns den Strom vergangenen Lebens am anschaulichsten erfahrbar macht."

Der letzte ganz große "Romanwurf" gelang Lenz 1978 mit dem "Heimatmuseum", dessen Umfang er als "unhöflich dick" bezeichnete. Ein leidenschaftliches Plädoyer für einen unideologischen Heimatbegriff, dargestellt am Schicksal des aus seiner masurischen Heimat vertriebenen Zygmunt Rogalla. Der Protagonist verbrennt sein in Schleswig-Holstein aufgebautes "Heimatmuseum", als ihn revanchistische Vertriebenenverbände politisch zu vereinnahmen versuchen.

"Heimat ist nur eine Erfindung der Melancholie", heißt es im Roman. Insofern ist Lenz stets ein Melancholiker gewesen, denn sowohl Masuren als auch später Hamburg (oder die Küste im Allgemeinen) sind ständig wiederkehrende Schauplätze - so auch in seinen letzten Romanen "Arnes Nachlaß" (1999) und "Fundbüro" (2003). Lenz selbst bezeichnete kürzlich "Exerzierplatz" (1985) als den Roman, der ihm heute noch am meisten bedeutet.

Wiederkehrende Motive

Nicht nur die Handlungsorte, sondern auch viele Motive tauchten in Intervallen immer wieder auf. Schon früh setzte er sich mit dem Älterwerden auseinander -erstmals 1959 in "Brot und Spiele" anhand der nachlassenden Leistungsfähigkeit eines Sportlers. Ein weiteres zentrales Sujet des Naturliebhabers und passionierten Anglers ist die fortschreitende Zerstörung des Lebensraums. Diese beiden Leitmotive hat Lenz 1994 im Roman "Die Auflehnung" zusammengefasst. Die Wittmann-Brüder durchleben Alterungsprozess und Naturzerstörung; der eine als Tee-Experte, dessen Geschmacksnerven plötzlich nicht mehr funktionieren, der andere als Forellenzüchter, dessen Teiche von der Natur und von wenig friedliebenden Nachbarn angegriffen werden.

Die Essays, der Pädagoge

In seinem Essayband "Über den Schmerz" (1998) hat sich Lenz umfassend über Altersprobleme ausgelassen. Nie hat er so melancholisch, nie so selbstbemitleidend geschrieben. Mit einer Betrachtung des weltberühmten Munch-Bildes "Der Schrei" leitet Lenz nicht nur das Buch ein, sondern gibt den nachfolgenden Texten auch gleich den schwermütigen Tenor vor. Außerdem ist der Autor im Laufe der Jahre etwas dünnhäutig geworden, beklagt er doch in diesem Band auch "die vergebliche Hoffnung des Schriftstellers, von seinem Kritiker allumfassend verstanden zu werden". Versteckt hinter Ludwig Börne moniert Lenz, dass "jeder, der die Hand zu nichts anderem gebraucht, und wer nicht schreiben kann, rezensiert."

Wesentlich kämpferischer (sofern dieses Attribut für den bedächtigen Lenz überhaupt erlaubt ist) präsentiert er sich 2001 im Band "Mutmaßungen über die Zukunft der Literatur". Mit Blick auf die multimedialen Einflüsse, unter denen heute die Kinder aufwachsen, heißt es: "Uns unterrichten Statistiken darüber, daß die Zahl der in ihrer Sprachentwicklung gestörten Kinder weiter zunimmt und daß Legasthenie immer häufiger vorkommt. Auch wenn es dafür sicher verschiedene Gründe gibt - ein wesentlicher Grund ist der Bildschirm, ist das, was er von vorgewählter Wirklichkeit vermittelt."

Dass Lenz in diesem Kontext ein leidenschaftliches Plädoyer für die Literatur als bewahrenswertes Bildungsgut hält, ist beinahe selbstverständlich. Völlig untypisch für den Skeptiker ist der in diesem Zusammenhang zum Ausdruck gebrachte Optimismus: "Es ist nicht schwer vorauszusagen, daß die Chancen des Buches gegenüber der Bildschirmliteratur auch für die Zukunft nicht schlecht stehen." Seine Begeisterungsfähigkeit für die Literatur hat er sich auch in seinen jüngst erschienenen Aufsätzen "Selbstversetzung" bewahrt. "Schreiben ist eine gute Möglichkeit, um Personen, Handlungen und Konflikte verstehen zu können", räumt Lenz der Literatur eine Art Funktion als "Schule des Lebens" ein.

Romane oder Erzählungen?

"Drei Tassen Kaffee, zwei Pfeifen, und ich bin in Fahrt", so hat Lenz seinen Start in den Tag einmal selbst beschrieben. In Fahrt um weiter Romane und Erzählungen zu schreiben, unbeirrbar kleine menschliche "Katastrophen" oder amüsante Anekdoten zu thematisieren, wie in seinem vorzüglichen Bändchen "Zaungast" (2004), das sieben schmale Reiseerzählungen enthält und eine bisher fast völlig unbekannte Facette im Lenzschen Oeuvre offenbarte: den hintersinnigen Humoristen.

Noch immer sind sich die Experten nicht einig darüber, ob der Romancier Lenz oder der Kurzgeschichtenerzähler, der an Hemingway''sche Knappheit und Pointierung erinnernde Shortstory-Autor Lenz der Literatur kostbarere Diamanten hinterlassen hat. Trotz der bedeutenden Romane "Deutschstunde" und "Heimatmuseum", die ihn mit Günter Grass und Heinrich Böll auf eine Stufe stellen, sind mir die Erzählungen noch stärker ans Herz gewachsen. "So zärtlich war Suleyken" (1955), "Das serbische Mädchen" (1987), "Ludmilla" (1996) und "Zaungast" (2004) sind Juwelen in der deutschsprachigen Erzählliteratur: exzellent gebaute, atmosphärisch dichte Geschichten. Kein Wunder, dass pünktlich zum 80. Geburtstag ein mehr als 1500 Seiten umfassender Sammelband mit Erzählungen (neben anderen Sonderausgaben) bei Hoffmann und Campe aufgelegt wurde.

Leben und Schreiben sind bei Lenz kaum voneinander zu trennen. Sein Alltag und sein literarisches Werk korrespondieren unentwegt miteinander: "Ich drehe mich einfach um in Augenblicken der Verzagtheit, oder der Bilanzwehmut, schaue auf die Buchreihe, die da steht, und finde ein gewissermaßen materialisiertes Leben vor. Es ist da, es ist anwesend, ich kann mir sagen, von 51 bis 53 hast du das versucht, dann das, dann hast du zwischendurch einen Band mit Erzählungen geschrieben. Mit anderen Worten, das verflossene Leben präsentiert sich", erklärte der Jubilar vor fünf Jahren in einem Interview mit dem Norddeutschen Rundfunk.

Im Sport ist es fast unmöglich, was in der Literatur funktioniert: Lenz ist ein Meistersprinter auf der erzählerischen Kurzstrecke, ausgestattet mit einer beneidenswerten Kondition für die langen "Literatur"-Distanzen. Sein Name ist zu einem Gütesiegel in der deutschsprachigen Literatur geworden. Dazu darf man aus aktuellem Anlass gratulieren und möchte ihm zuprosten - ganz nach norddeutscher Sitte mit einem Gläschen Aquavit, das bevorzugte Getränk vieler Lenz-Figuren.


Titelbild

Siegfried Lenz: Die Erzählungen.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2006.
1535 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-10: 3455042856

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Siegfried Lenz: Selbstversetzung. Über Schreiben und Leben.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2006.
100 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-10: 3455042864

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