Wundersame Geschichten um die Geschichte
Zwei Romane und eine historische Erzählung von Antal Szerb
Von Klaus Bonn
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseIm letzten Teilstück seiner Arbeit "Sur Racine" (1963) hat Roland Barthes von der dem literarischen Werk wesenhaften Paradoxie gehandelt, dass es ein Zeichen für die Geschichte vorstelle und zugleich einen Widerstand gegen sie bezeige. Die Literaturgeschichte, gleich welche, habe von der Geschichte lediglich den Namen ausgeborgt, sie bestehe aus einer Reihe von Monografien und sei nichts anderes als eine Aufeinanderfolge einzelner Literaten; man habe es mit einer Chronik zu tun und nicht mit einer Geschichte. Der Streit zwischen 'alter' und 'neuer' Kritik, den Barthes in Frankreich daraufhin ausgelöst hat, soll hier nicht weiterverfolgt werden.
Die Kluft aber zwischen einer Daten anhäufenden Literaturgeschichte, die im Dienste eines scheinbar verlässlich Faktischen steht, und einem offenen, fragenden, auch zweifelnden Forschungsgang der Literaturkritik oder -wissenschaft muss Antal Szerb damals in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts bewusst gewesen sein. Bis auf den heutigen Tag gilt er in seiner ungarischen Heimat als der Verfasser einer nationalen Literaturgeschichte (1934) und des Monumentalwerks "Die Literaturgeschichte der Welt" aus dem Jahr 1941. Kaum ein Studierender der Hungarologie, der nicht mit diesen Werken in Berührung käme. Die Romane Szerbs finden erst seit kurzem ein reges Interesse, mit Neuauflagen in Ungarn und Erstausgaben in deutscher Übersetzung. Szerbs Erstling aus dem Jahr 1934, "Die Pendragon-Legende", erschien 2004, und bereits ein Jahr zuvor der wohl bekannteste Roman, "Reise ins Mondlicht" (1937), der in Deutschland zu einem Bestseller avancierte.
Beide Titel sind mittlerweile auch als Hörbücher (je fünf CDs) im Handel greifbar, gelesen von dem vielbeschäftigten Fernsehdarsteller Heikko Deutschmann. Eine verknappte Alternativ-Version der "Reise" ist überdies noch als Hörspiel-Bearbeitung des SWR auf zwei CDs erhältlich. Der dritte Titel Szerbs, den der dtv-Verlag auf den Markt gebracht hat, dürfte es schon schwerer haben, sich beim Lesepublikum durchzusetzen. "Das Halsband der Königin" (1943) liegt seit 2005 in einer überarbeiteten Neuausgabe vor, die auf das Jahr 1966 zurückgeht. Szerb nennt seinen Text selber eine "symbolische" Erzählung. Teils Chronik, teils am historischen Material orientierter Handlungsverlauf, lässt sich "Das Halsband" schwerlich einem narrativen Genre zuschlagen; die Erzählung bewegt sich zwischen Literatur und Geschichtsschreibung.
Ihr Thema ist jener berüchtigte Hofskandal am Ende des Ancien Régime, die sogenannte Halsbandaffäre aus den Jahren 1785/86. Szerb liest sie als Symptom für eine Zeitenwende, als "symbolisch", man könnte sagen paradigmatisch für das Heraufdämmern der Revolution. Man muss diese erneute Wiederaufbereitung des historischen Stoffs nicht "spannend" oder "unterhaltsam" finden, wie das der Klappentext suggeriert. Wer die beiden Romane gelesen hat, kann aber bei der Lektüre von "Das Halsband der Königin" Einblicke in Szerbs mal psychologische, mal soziologische, mal lakonisch ironische, mal ernsthaft kritische literarische Verfahrensweise gewinnen, die er der Zeit und den darin agierenden Figuren angedeihen lässt. Die Inszenierung eines komplexen Interessengelages der an der Handlung Beteiligten und das Gespür für die Heraufbeschwörung eines dramatischen Konflikts sind auch für die narrative Komposition von "Die Pendragon-Legende" und "Reise ins Mondlicht" von Belang.
In seiner Version der Geschichte über die Halsbandaffäre schreibt Szerb: "Den Verfasser dieser Zeilen interessiert seit seinem sechsten Lebensjahr am meisten die Welt der Geschichte. Trotzdem hegt er ein tiefes Mißtrauen gegenüber der Geschichte als Wissenschaft." Weder kommt es Szerb darauf an, eine unterhaltsame Erzählung zu verfassen, wie seinerzeit Alexandre Dumas in "Le collier de la reine" (1849), noch geht es um eine rein deskriptive Auflistung von Machenschaften, Intrigen und Rechnungsbelegen für die Verschwendungssucht der Oberen, die sich dann zu dem Komplex des Skandalösen verdichten. Szerb ist um Sachlichkeit bemüht; das hat er mit seiner Figur János Bátky aus der "Pendragon-Legende" gemein, die er einmal von sich sagen lässt: "Ich bin nämlich beim Schreiben bis zu einem gewissen Grad auch ein Anhänger der Neuen Sachlichkeit und mag keine überflüssigen Episoden." Im "Halsband" greift Szerb auf eine ganze Fülle von Materialien zu seinem Thema zurück, darunter die Schriften von Tocqueville, Mercier, Sainte-Beuve, Carlyle und Stefan Zweig. Der Name Dumas' findet bezeichnenderweise keine Erwähnung. Versucht man die beiden Romane im Verhältnis zur historischen Erzählung zu typisieren, so befasst sich die "Pendragon-Legende" mit überlieferter Geschichte als Legendenbildung, mit Mystik und Okkultismus der Rosenkreuzer des 17. Jahrhunderts, verarbeitet in einer Mischung aus Krimi, Gothic Novel und Mysterienroman. Bátky, der sich leidenschaftlich gern im British Museum aufhält, um sich in das Studium der alten Handschriften zu vertiefen, darf als Vorläufer des archäologisch arbeitenden Verfassers von "Das Halsband der Königin" gelten. Cagliostro, eine der Hauptfiguren in der Geschichte des Hofskandals, taucht am Rande schon in der "Legende" auf, wo von Freimaurerlogen des 18. Jahrhunderts die Rede ist.
Der Roman "Reise ins Mondlicht" indes scheint weniger zu tun zu haben mit Fragen der Geschichte und Recherchearbeiten in Bibliotheken. Doch auch hier trifft der Protagonist Mihály auf einen ehemaligen Kommilitonen, den Religionswissenschaftler Waldheim, der durch und durch von seiner Arbeit beseelt ist. Einmal lässt er sich hinreißen zu der wunderbar verwegenen Bemerkung, die wie zu einem Merksatz komprimiert ist: "Das praktische Leben ist ein Mythos, ein Bluff, den jene erfunden haben, die unfähig sind, sich mit geistigen Dingen zu beschäftigen."
Alle drei Bücher Szerbs kreisen um das Leben in und mit der Literatur, der Wissenschaft, die Bücher, das Mystische und das Wunder. Er sei "kein passionierter Liebhaber, es sei denn, es geht um Geschichte oder Literatur", bekennt Bátky. Und von mangelnder geistiger Beschäftigung kündet "Das Halsband der Königin" gleich an mehreren Stellen. Von der Königin selbst, Marie Antoinette, heißt es: "Sie hatte einen unüberwindlichen Widerwillen gegen jede Art geistiger Betätigung und schwierige Lektüre" - nicht ohne den hyperbolischen Zusatz: "Doch man konnte ihr deswegen nicht böse sein." Der König, Ludwig XVI., steht dem in nichts nach. "Die Literatur aber interessierte ihn überhaupt nicht, was für einen König von Frankreich ein großes Manko war, lebte er doch in einer Epoche, in der jedermann fieberhaft und ständig las und die Welt durch die Literatur kennenlernte."
Aus der Geistlosigkeit, die in heutiger Zeit überwiegend durch die Fernsehkanäle geistert und geschürt wird, schlugen, so Szerb, die um Befriedigung der Tratschsucht der Öffentlichkeit bemühten Pamphletisten Kapital. "Die Pamphletisten waren widerliche, unbedeutende Gesellen, [...]. Aber ihre Rolle bei der Vorbereitung der Revolution dürfte größer gewesen sein als die der wirklichen Schriftsteller." Man denke nur an die Papparazzi von heute, die Statthalter der Verblödung, auch wenn sie wohl kaum das Zeug dazu haben, eine Revolution anzuzetteln. Geistige Verblendung, die heutzutage öfter unter dem Stichwort des abgeschmackt Esoterischen firmiert, ist eines der zentralen Themen der historischen Erzählung. Die Hochstapelei, die just zur Zeit des Rokoko aufkommt, steht hoch im Kurs. Als Prototyp des Hochstaplers und Scharlatans figuriert Cagliostro. "Bei Cagliostro entwickelte sich früh die Neigung, von der Leichtgläubigkeit der Mitmenschen, von den Nebenprodukten der Religiosität zu profitieren."
János Szepetneki, ein ehemaliger Schulkamerad Mihálys, verkörpert den Typ des modernen Hochstaplers in "Reise ins Mondlicht". Szepetneki gibt sich nicht mehr als in Not geratener vornehmer Mann aus, um das Mitleid der anderen zu erheischen. Seine Umtriebigkeit auf allen Gebieten, wo er ein Geschäft wittert, weist ihn als einen jener coolen Profis aus, deren Heil in ihrer Selbstverliebtheit bei völliger Unverbindlichkeit liegt. Über seinen Umgang mit Frauen gibt er die Losung aus: "Geistreich den Hof machen kann ich nicht. Das ist etwas für die Impotenten. Wenn mir eine Frau gefällt, dann will ich es ihr so rasch wie möglich beibringen. Sie mag dann reagieren oder nicht. Meistens reagiert sie."
Vom Wunder, dem Wundersamen und Wunderbaren, dem Glauben und Schicksalsmächtigen sind alle drei Texte durchdrungen. Überall sind Wunder gesät, ob sie aufgehen oder nicht, steht nicht in unserer Macht. Sei es, dass das Leben als eine Folge "unerklärlicher Koinzidenzen" aufgefasst wird, wie in der "Reise", oder zuweilen als das plötzliche Auflodern "ungeahnte(r) Fähigkeiten" im Menschen vorkommt, "die man getrost als Wunder bezeichnen kann", wie in der "Legende". In der "Halsband"-Erzählung ist ein ganzes Zeitalter, das Rokoko, damit beschäftigt, auf ein Wunder zu warten.
Im Hinblick auf Cagliostros Erfolge notiert Szerb: "Die Menschen waren damals nicht viel anders als heute; sie glauben gelegentlich klugen, verständigen Worten, doch begeistern können sie sich nur für etwas, das sie nicht verstehen. Die konturlosen Begriffe, die nebelhaften Worte, die pathetischen Dummheiten haben Zaubergewalt über die Halbgebildeten - besonders an der Schwelle großer Umstürze, in Zeiten des Wartens auf ein Wunder."
Vieles gäbe es noch zu sagen über diese drei Texte, einiges über die Nationen und Völker, die darin eine Charakterisierung erfahren. In der "Legende" England mit dem ehrenhaften, wenn auch etwas skurrilen Earl und seiner Burg, in der "Reise" Italien, das Land der Träume und Entdeckungen, der Bildungsreise, und in "Das Halsband der Königin" Frankreich kurz vor dem Ausbruch der Revolution. Eine Bemerkung wie die folgende über die Franzosen überrascht schon, wenn man bedenkt, dass die Erzählung mitten im Zweiten Weltkrieg erschienen und einer der letzten Texte Szerbs ist. "Das Franzosentum ist eine geschlossene Welt, in der ein Nicht-Franzose keinen Platz findet. Es gibt unter den zivilisierten, weißen Völkern keines, das so wenig Verständnis für das ihm Fremde hätte."
Von Deutschland und dem Nationalsozialismus keine Spur, obgleich man gerade dort, in einer Zeit des Umbruchs, auf das Wunder der Erhebung des Deutschtums wartete, geblendet von "pathetischen Dummheiten". Lene Kretzsch aus der "Pendragon-Legende" ist die einzige Vertreterin des Deutschen, eine Stipendiatin, die sich "zum Studium der Geschichte" in Oxford aufhält. Sie wird nicht nach Deutschland zurückkehren, in England bleiben, um bei Osborne, dem Sohn des Earl, als Sekretärin zu arbeiten. Ein Wunder? Sollte darin doch ein Hinweis auf die unerträglichen Zustände Hitler-Deutschlands versteckt sein?
Im Epilog zur historischen Erzählung um den Hofskandal in Frankreich kommt Szerb auf die Geschichte zurück mit einem Vermerk zu einem der Kerngedanken aus Hegels Philosophie der Geschichte. "Der 'Weltgeist'", schreibt er, "bedient sich des menschlichen Neides, der Selbstsucht und der übrigen Leidenschaften, um die Menschheit seinen Zielen zuzutreiben - Zielen, die die Menschheit selbst nicht kennt -, darunter auf das am weitesten gesteckte Ziel der Weltgeschichte hin, die Freiheit."
Wäre es dann eine List der historischen Vernunft zu nennen, dass Szerb zwei Jahre nach dem Erscheinen von "Das Halsband der Königin" im Konzentrationslager Balf 1945 ermordet wurde? Der kleine Ort Balf existiert heute noch, nahe der österreichisch-ungarischen Grenze. Bekannt ist das Kurzentrum, in dem es sich alljährlich Hunderte von Besuchern ihrer Gesundheit zuliebe wohlergehen lassen - überwiegend Deutsche und Österreicher. Darin steckt dann mitunter die wundersame Ironie der Geschichte als Groteske.