Antike und Spät-Aufklärung
Ein epochaler Einstieg in das "Karl Philipp Moritz-Jahr"
Von Markus Bauer
Besprochene Bücher / Literaturhinweise2006 ist nicht nur ein Freud-, Heine- und Mozart-, sondern auch ein Moritz-Jahr! Vor 250 Jahren wurde der Spätklassizist und Frühromantiker, Psychologe und Altertumsforscher, Autobiograf und Akademiker, einer der - wie Arno Schmidt sie nannte - "Schreckensmänner" der deutschen Aufklärung in Hameln geboren. Dieses eher düster klingende Attribut brachte dem Ästheten und Menschenfreund Moritz sein unverblümt religionskritischer autobiografischer Roman "Anton Reiser" ein: "Sie sind mir in ihrer überscharf gewetzten Beobachtungsgabe, ihrer allumfassenden Rücksichtslosigkeit, die geborenen Autobiographen", schrieb Schmidt über die aus armen Verhältnissen stammenden Sezierer der "condition humaine" am Ende des 18. Jahrhunderts.
Wiewohl dieses sein Hauptwerk, als "psychologischer Roman" deklariert - der erste deutscher Zunge - sich mittlerweile in den Seminaren und auch jenseits der Universitäten ein Lesepublikum gesichert hat, so scheiterten bisher alle Versuche, die verstreuten Aufsätze, Gedichte, Zeitungsartikel, Aktenstücke und Zeitschriftenprojekte des eigenwilligen Autodidakten aus dem 18. Jahrhundert komplett zu sammeln und kritisch zu edieren. Ein ambitioniertes Unternehmen des Greno-Verlages in den 1980er Jahren führte lediglich zu einem faktenreichen "Lesebuch", das Joachim Nettelbeck zusammengestellt hatte, sowie zum Neudruck des kompletten "Magazins zur Erfahrungs-Seelenlehre"; eine dreibändige Ausgabe des Insel-Verlags bot immerhin die Haupttexte, wenn auch in unzuverlässiger Gestalt. Sogar die Fortsetzung der Biografie durch seinen Freund Klischnig nach Moritz' frühem Tod fand im mittlerweile leider wieder verschwundenen Gatza-Verlag einen Reprint.
Nun hebt mit ihrem kritischen und kommentierten Neudruck der "Anthusa" und des Aufsatzes "Über die Würde des Studiums der Alterthümer" die Edition einer umfangreichen Moritz-Ausgabe an, die den ungewöhnlichen "Selbst-Denker" zwischen Spätaufklärung, Klassik und Romantik endlich in den Kanon der textlich gesicherten Autoren versetzen will. Erst die durch ein DFG-gefördertes Forschungsprojekt der Berlin-Brandenburger Akademie der Wissenschaften inaugurierte neueste Moritz-Philologie hat begonnen, historische Quellenforschung und Textphilologie zu verknüpfen - mit dem Ziel einer kritisch kommentierten Ausgabe in 13 Bänden, die auch neu aufgefundene Briefe und Dokumente zu seiner Biographie enthalten soll.
Als Karl Philipp Moritz 1786 zu seiner Italienreise aufbrach, die ihn in Rom auch mit Goethe zusammenbringen sollte, hatte er dieses Unternehmen insbesondere auch mit diversen literarischen Plänen verknüpft. Von seinem Verleger Cotta lieh er sich Geld auf der Basis des Versprechens, diesem verschiedene Texte aus Italien zum Druck zu senden. Neben der Reisebeschreibung und ästhetischen Schriften war es vor allem die Darstellung der Altertümer, die als offizieller Grund zu dem anderthalbjährigen Aufenthalt im Süden für den am Berliner Grauen Kloster lehrenden Professor und Schriftsteller galten.
Neben einer sehr erfolgreichen, bis ins 20. Jahrhundert wiederholt nachgedruckten mythologischen Darstellung "Götterlehre" stellt die nun als erster Band der Kritischen Moritz-Ausgabe (KMA) vorliegende "Anthusa. Oder Roms Alterthümer. Ein Buch für die Menschheit. Die heiligen Gebräuche der Römer" einen Teil der antiquarischen Ausbeute des Italienaufenthalts dar. In ihr unternimmt es Moritz, den religiösen Festkalender des antiken römischen Jahres darzustellen und zu erklären.
In diesem Unternehmen sind sowohl seine ästhetischen als auch geschichtstheoretischen Theorien präsent, wie sie auch in der Reisebeschreibung aufscheinen, und geben der Darstellung ihr eigenes Gepräge. Moritz hebt die zeitliche Distanz zwischen den antiken Bräuchen und dem, was er auf seiner Reise sieht, einfach auf, um in diesem Palimpsest der Landschaft und in ihren Ruinen jenes Leben ästhetisch wiederzubeleben, "das einmal alles war, was der Mensch durch vereinigte Kräfte seyn kann." "Das Vergangene ist nicht vergangen, so lange es in jedes kommende Geschlecht sich noch mit unauslöschbaren Spuren drückt - und das Alte ist nicht alt geworden, so lange es noch in jeder neu aufkeimenden Einbildungskraft sich wieder verjüngen muß." Seine identifikatorische Haltung gegenüber dem sichtbaren Anderen bestimmt vor allem auch die Reisebeschreibung, deren Haltung häufiger in der Darstellung der antiken Bräuche und Feste durchschimmert. So findet sich eine diaphane Betrachtungsweise, von der nicht zu sagen ist, ob Moritz sich von den antiken Zeugnissen seine gegenwärtige Wahrnehmung bestimmen lässt oder ob die Gegenwart ihm die Präsenz der antiken Epoche simuliert. Es ist somit eine eigene poetische Atmosphäre, in der die quasi wissenschaftliche Ebene dessen, was man heute wohl "Sachbuch" nennen würde, transzendiert wird in einen angenehm lesbaren Text, der Volksleben und Religionskult zu einer neuen Art der toleranten metaphysischen Betrachtung verschmilzt.
Dass sich allerdings die antiquarischen Kenntnisse des Reisenden nicht auf dem letzten Stand der Wissenschaft befanden, führt der umfangreiche und vielfach die Textur von Moritz' Beschreibung erhellende Kommentar der Herausgeberin Yvonne Pauly vor. Ausführlich werden dort die Quellen und Vorlagen des Textes benannt, so dass Moritz in der "Anthusa" vor allem auch als großer Kompilator erscheint. Desweiteren geben 260 Seiten Stellenerläuterungen Aufschluss über die materialen Inhalte des von Moritz Erwähnten, womit die Lektüre des Bands zugleich eine historische Einführung in die antiquarische Religionskunde bildet. Dank dieser sorgfältigen und umfangreichen Kontextualisierung (der Kommentar ist zugleich die Berliner Dissertation der Herausgeberin) beginnt Karl Philipp Moritz' Werk in ein neues Licht zu treten, das die kommenden Bände der Ausgabe sicher noch weiter akzentuieren werden. In der so neu zu gewinnenden geistigen Physiognomie Moritz' wird eine Fülle an ungewöhnlichen, damals neuen und bis heute vielfach nicht vollständig zur Kenntnis genommenen Theorien und Denkweisen zu Tage treten, die die heutige Sicht auf das späte 18. Jahrhundert entscheidend verändern können.
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