Zertrümmerter Beton

Lose Notizen zu Rolf-Dieter Brinkmanns "The Last One"

Von Jan FischerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Fischer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1. London, 23.April 1975. Muss nicht stimmen, aber: Londoner Nebel wallt über eine dreckige Kopfsteinstraße. Es ist dunkel. Die jungen Lyriker Jürgen Theobaldy und Rolf-Dieter Brinkmann kommen aus dem Pub "Shakespeare's" ins Bild gestolpert. Sie kommen vom Cambrigde Poetry Festival, haben dort gelesen, wollen wieder zurück nach Köln. Machen noch kurz Station in London, wollen im Rhine Hotel übernachten.

Dann aber: Westbourne Groove. Linksverkehr, ausgerechnet. "Er sah hinüber zur anderen Straßenseite. Kahle Bäume und frische Luft, erster Teil. Zog nicht schon wieder ein roter Feuerwehrwagen vorbei, auf das rote Erdbeerfeld zu? Oder war er nur unausgeschlafen?"

Es war eine schwarze Limousine. Das letzte, was Rolf-Dieter Brinkmann sehen sollte. Wenn er sie überhaupt sah. Kein Rock'n'Roll Tod, das nicht. Aber ein Pop-Tod.

2. "Wie ich zu dieser Einladung gekommen bin, weiß ich nicht", schreibt Brinkmann über seine Einladung zum ersten Cambridge Poetry Festival, "Ich war ganz erstaunt als ich sie vorige Woche bekam".

Er ist fast noch ein Geheimtipp damals, einer linken Subkultur und ein paar Insidern bekannt. Interessant, ja. Föderungswürdig, ja. Zugänglich auf keinen Fall. Und irgendwie auch nicht ernst zu nehmen, dieser komische Kerl, der auch ganz gerne mal Ärger macht, der Wutausbrüche hat und Marcel Reich-Ranicki die legendären Worte: "Wenn dieses Buch ein Maschinengewehr wäre, würde ich Sie über den Haufen schießen" entgegenschleudert. "Ab 1970: Abkehr vom Literaturbetrieb" schreibt er in einen Lebenslauf. Heute präsentiert selbst seine ehemalige Schule ihn stolz als "berühmten Abgänger". Welcome to Kanonbildung.

3. In Cambridge stellt er sich mit den Worten vor: "My name is Rolf-Dieter Brinkmann. I am coming from Cologne. Cologne is a very dark industrial city with not much poetry in it. Perhaps that's what makes my poetry so simple".

Ein paar Gedichtbände vor 1968. Eine Anthologie mit amerikanischen Beat-Lyrikern. 1968 erscheint "Keiner weiß mehr", ein intensiver Prosastrom, der das Lebensgefühl festhielt, kurz bevor tatsächlich etwas passierte, der aus jeder Ecke brodelt, wie die Straßen der BRD Mitte der 60er brodelten. Der sich am Vokabular der Popwelt bediente, sie aber durchaus mit Abscheu betrachtete. Der überhaupt alles mit Abscheu betrachtete, außer vielleicht die Rolling Stones.

"Leider kann ich nicht Gitarre spielen, ich kann nur Schreibmaschine schreiben, dazu nur stotternd, mit zwei Fingern. Vielleicht ist mir aber manchmal gelungen, die Gedichte einfach genug zu machen, wie Songs, wie eine Tür aufzumachen, aus der Sprache und den Festlegungen raus."

1970 erschien noch "Gras". Dann zog sich Brinkmann zurück. Es gibt wichtigeres als Literatur. Als literarische Festlegungen. Als "Tote, die Tote betrachten". Brinkmann reiste herum. War in der Villa Massimo. Träumte von einem zweiten Roman. Legte monströse Materialsammlungen an.

4. Im Mai 1975 fetzte der Lyrikband "Westwärts 1&2" in den deutschen Literaturbetrieb. Brinkmann war erst seit ein paar Wochen verstorben. Es sollte sein wichtigster Band werden. Wozu sein Tod vielleicht auch etwas beigetragen hat.

Die meisten Gedichte, die er in Cambridge vortrug, waren dem Band entnommen: Momentaufnahmen des kahlen Kölner Wirklichkeitsstromes, wo Frikadellenbudenbesitzerinnen vor fettbeschmierten Plexiglascheiben sitzen und die BILD lesen. Das alles passiert HIER. JETZT. In jeder Zeile diese Worte: HIER. JETZT. Man muss das verstehen: Brinkmann rüttelte kräftig an einer Zeit, in der deutsche Literatur am besten mit den Worten "Beton aus Backförmchen" beschrieben ist. Heinrich Böll ist das höchste der Gefühle, Brinkmann dagegen Unterground. Seine Themen sind immer gegenwärtig, immer flexibel: "Mama, Papa, da fällt mir Aua ein". Damit konnte man schon ein paar Verkrustete ärgern, wenn man die Literatur entliterarisiert.

5. Vieles liest Brinkmann auf Englisch: Übersetzungen, die nur auf dem Festival zum Einsatz kamen, die er eigens für diesen Anlass anfertigen ließ. Eine leichte, fast brüchige Stimme, ein leichter Lispelfehler, eindeutig norddeutsch. Eindeutig deutsch, selbst wenn Brinkmann Englisch spricht. Aber unheimlich treibend, diese Stimme drängt immer weiter nach vorne, ist in all ihrer Brüchigkeit kaum zu bremsen. Wenn man die Gedichte hört, werden sie zugänglicher, leichter zu halten. Da ruckelt was im Strom. Der Fluss bekommt Rhythmus, Pointe, Akzent. Brinkmann zu hören, und sei es nur in mittelmäßigem Englisch, ist tatsächlich Unterhaltung.

Brinkmann bewegt sich immer in einer Ambivalenz, immer zwischen einer unbändigen Liebe zum Lebensstrom und einem abgrundtiefen Hass zum Festgefahrenen. Beim Hören merkt man: Die Liebe überwiegt. Ein erstauntes Urteil: Er, der die Gegenwart beschimpfen konnte wie kein anderer, hat gute Laune.

6. Dann plötzlich erklärt Brinkmann sich. Seine Lyrik. Seine Performance. Wie er Gedichte schreibt, wen er mag, wen er nicht mag, wer ihn beeinflusst hat. Regt sich darüber auf, dass die 68er schon als Vergangenheit gehandelt werden. Wunder über Wunder: Brinkmanns Lyrik wird plötzlich noch verständlicher, noch greifbarer. Wunder über Wunder: Brinkmann wird greifbarer. Brinkmann wird Mensch.

7. " Es / gibt eine große Anzahl Augenblicke, // die so gespenstisch sind, daß / man nicht einmal erschrickt, // z. B. alle Straßen sind leer / und die Ampeln funktionieren."


Kein Bild

Rolf Dieter Brinkmann: The Last One. Autorenlesungen. Cambridge Poetry Festival 1975. Audio-CD.
Hörsturz Booksound, Erdingen 2005.
59 Minuten,
ISBN-10: 3934847463

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