Ein psychoanalytischer Aufklärer

Über Johannes Cremerius' Darstellung seines psychoanalytischen Lebens

Von Ludger LütkehausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ludger Lütkehaus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Johannes Cremerius war einer der bedeutendsten zeitgenössischen Psychoanalytiker und Psychosomatiker in der Tradition Freuds, zugleich einer der engagiertesten Kritiker der institutionalisierten Psychoanalyse, der Debatten, wo sie nötig waren, nicht scheute.

Von 1966 bis 2000 lehrte er neben Gaetane Benedetti in Milano. Von 1972 bis zu seiner Emeritierung 1986 hatte er den Lehrstuhl für Psychotherapie und Psychosomatische Medizin an der Universität Freiburg inne. Er war auch ein interdisziplinär produktiver Grenzüberschreiter: Die "Freiburger literaturpsychologischen Gespräche", die inzwischen zu einem vielbesuchten internationalen Forum geworden sind, wurden 1975 von ihm mitbegründet.

Als Cremerius überraschend im März 2002 starb, hinterließ er das unabgeschlossene Manuskript einer Darstellung seines Lebens als Psychoanalytiker in Deutschland, in den USA, der Schweiz und Italien. Literaturwissenschaftliche und psychoanalytische Weggefährten haben das Konvolut gesichtet und mit den bei einer postumen Publikation unvermeidlichen redaktionellen Eingriffen in eine lesbare Form gebracht. Es handelt sich um die Darstellung des psychoanalytischen Lebens, nicht im persönlichen Sinn um eine Autobiografie. Privates, Familiäres bleibt bis auf das Eingangskapitel über Kindheit und Jugend am Rande. Auch der Kriegsaufenthalt des entschiedenen NS-Gegners in Italien mit Kontakten zum antifaschistischen Widerstand wird nicht thematisiert.

Um so mehr hat das Buch bekenntnishaften Charakter. Die Identifikation mit der europäischen Aufklärung, als deren größter zeitgenössischer Vertreter Freud zumal mit seinen kultur- und gesellschaftskritischen Schriften gilt, die Auseinandersetzung mit den restaurativen Impulsen der Epoche und ein dezidierter Antiklerikalismus charakterisieren den Geist des Buchs. Sein lebendigstes Kapitel ist das über die Studentenbewegung, der Cremerius als kritischer Sympathisant - eine bemerkenswerte Ausnahme im universitären Establishment - gegenübertritt.

Seine größte Bedeutung gewinnt das Buch als historisch-kritisches Zeugnis eines halben Jahrhunderts Psychoanalyse in Deutschland. Das beginnt mit den Münchner Assistenzjahren und dem Aufbau einer Beratungsstelle für KZ-Opfer und einer ersten psychosomatischen Abteilung, setzt sich fort mit einem ausgedehnten Studienaufenthalt in den USA, der Begegnung mit den großen Emigranten der Psychoanalyse (Kurt R. Eisler, Frieda Fromm-Reichmann, Rudolph M. Loewenstein), dann mit intensiven Lehrjahren in der dissidenten Zürcher Psychoanalyse (Fritz Morgenthaler, Paul Parin) und führt schließlich über die Jahre einer prekären Zusammenarbeit mit Horst Eberhard Richter in Gießen zum Aufbau einer psychoanalytisch orientierten Psychosomatik in Freiburg.

Cremerius hat innige Gegnerschaften nicht gescheut. Sie werden durchaus beim Namen genannt, die heftigen Gegensätze zur Deutschen psychoanalytischen Vereinigung nicht verkleistert. Dass Psychoanalyse nicht nur die Introspektion, sondern auch die Konturenschärfe fördern kann, konnte man in der Begegnung mit ihm erfahren. Das kommt auch seinem Schreibstil zugute, der durch Klarheit und schnörkellosen Lakonismus, manchmal auch Simplifikation bestimmt ist. Noch mehr war er zur Freundschaft begabt. Zusammen mit seiner Frau führte er ein offenes Haus, der Gastlichkeit, dem Gespräch, der Literatur und der Kunst offen. Psychoanalyse, wie er sie inkarnierte, war eine lebendige Wissenschaft.


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Johannes Cremerius: Ein Leben als Psychoanalytiker in Deutschland.
Herausgegeben von Wolfram Mauser unter Mitwirkung von Astrid Lange-Kirchheim, Joachim Pfeiffer, Carl Pietzcker und Petra Strasser.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2005.
304 Seiten, 29,80 EUR.
ISBN-10: 3826032950

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