Wat los, Leipzig
Bühne frei für die Kleinverlage - auch im Jahr 2006 bewahrt sich die Lesestadt ihren Sinn fürs Disparate
Von Moritz Malsch
Schmerzende Füße, gestreßte Synapsen, blaue Flecke am ganzen Körper - die physischen Folgen der Leipziger Buchmesse waren die üblichen - vielleicht waren sie noch ein bißchen gravierender als in den Vorjahren. Was die blauen Flecke angeht, die stammten von den 251.998 Ellbogen der 125.999 übrigen Messebesucher - es herrschte ein Gedrängel wie nie zuvor. Für die gestressten Synapsen waren nicht die Zahlen, sondern die Bücher zuständig Genauer gesagt, die elektrischen Signale, die meinem Eindruck nach häufiger als bei anderen Messen "Entdeckung! Entdeckung!" an diverse Bereiche im Groß-, Zwischen-, Mittel-, Hinter-, und Nachhirn funkten.
Cortex, gutes Stichwort: So heißt ein angesagter Club in Leipzigs Südvorstadt, der seit Jahren - wie übrigens so ziemlich jeder bestuhlte Gartenschuppen zwischen Wiederitzsch und Klein-Zschocher - am Messebegleitfestival "Leipzig liest" teilnimmt. Diesmal packte hier ein Haufen jugendlicher Kleinverlage die Buschtrommeln aus: kookbooks, blumenbar und der Verbrecher Verlag, allesamt so genannte "Independents" der Verlagsszene, luden zusammen mit der Wochenzeitung "Jungle World" zur Lesung mit Party ein. Dem Vernehmen war es ein rauschendes Fest, jedenfalls war es um halb elf schon auf der Straße davor so voll, als würde jemand Kamellen aus dem Fenster werfen.
Chance verpasst! Aber das etwas lautere Auftreten junger Kleinverlage konnte man während der Messetage noch bei vielen anderen Gelegenheiten bewundern. Erstmals waren blumenbar, Tisch 7, kookbooks, der Verbrecher Verlag, German Publishers, die Schwartzkopff Buchwerke und wie sie alle heißen um eine eigene kleine Leseinsel in Halle 5 herum gruppiert. Die Lesungen ihrer Autoren waren angenehm widerborstig, als Beispiel sei die von Jörg Sundermeier genannt, der das von ihm herausgegebene und verlegte "Buch vom Klauen" vorstellte. Er las die bizarre Geschichte eines Bankraubs im stalinistischen Rumänien vor, den sechs ehemalige jüdisch-kommunistische Widerstandskämpfer aus bis heute nicht nachvollziehbaren Gründen 1959 verübten. Was macht man mit so viel sozialistischem Spielgeld, für das man sich ohnehin kaum etwas kaufen konnte? Das Verbrechen lieferte den Vorwand für eine Welle des staatlichen Antisemitismus.
Zartere Töne schlug Kristin Schulz in ihrem bei Tisch 7 erschienenen "Elsterneinmaleins" an, deren poetischer Witz und feine Formulierungskunst deutlich werden lassen, dass sie mit 30 bereits mehr als einen Umzug hinter sich hat. Doch die Heldin der Independent-Szene ist und bleibt kookbook-Verlegerin Daniela Seel. Die kompromissloseste unter den Unabhängigen produziert ihre Bücher in einer ofenbeheizten Ladenwohnung, die zugleich noch als Verlagsbuchhandlung dient. Für die verwirklichte Utopie eines literarischen Prosa- und Lyrikverlages ohne kommerzielle Mischkalkulation und für ihre gelegentlichen Überarbeitungs-Augenringe wurde sie im Berliner Zimmer mit dem Förderpreis der Kurt-Wolff-Stiftung ausgezeichnet - zu Recht.
Moment, es geht noch abseitiger. "Wat los, Parzen?" Diese respektlose Frage stellten die Herausgeber der gleichnamigen Anthologie Tom Bresemann, Philip Maroldt und Björn Schäfer. Die hier das Schicksal herausfordern, sind alle unter 40, die meisten zwischen 20 und 25 - Küken im Vergleich zu dem, was landläufig noch als "junger Autor" bezeichnet wird. Ihrer Lesung im Volkshaus Leipzig hätte man mehr Publikum gewünscht. Doch wer jugendlichen Revoluzzergeist erwartete, wurde enttäuscht - es sei denn, man meint die Provokation, Gedichte über Bäume zu schreiben. Diese Provokation, gegen jeden Trend hinreißend stille Natur- und Liebeslyrik zu lesen, genossen alle Autoren augenscheinlich. "kopf über kopf / funkelt dein grün / deine strähnen fallen / ein schauer / so leise / lies mich / bis an den anfang" (Achim Wagner).
Lars-Arvid Brischke, bekannt geworden durch die 2003 bei Dumont erschienene Anthologie "Lyrik von jetzt", gehörte mit 34 Jahren zu den ältesten Autoren des Abends. Sein unveröffentlichtes Gedicht "184 Krawatten für Schröder", das offensichtlich mit Jandls Fahnen-Gedicht zu tun hatte, erntete zahlreiche Lacher. Auch der Aphaia Verlag, bei dem "Wat los, Parzen?" erschienen ist, verdient Respekt für seinen bereits zwanzig Jahre anhaltenden Mut, der Lyrik nicht nur eine Chance, sondern einen Schutzraum zu bieten.
Wenigstens erwähnt werden soll an dieser Stelle noch der schöne Gedichtband "'O Chicago! O Widerspruch' - Hundert Gedichte auf Brecht" (Transit Verlag), der von Günter Kunert, Karin Kiwus, Jan Koneffke und Hans Thill im Berliner Zimmer der Buchmesse vorgestellt wurde. Die hundert Gedichte, von denen etwa 15 noch unveröffentlicht waren, zeigen, wie übermächtig Brechts Einfluss auf die deutsche Lyrik bis heute ist.
Zugegeben, das war jetzt ein sehr persönlicher Messe-Rückblick. Was sonst noch los war (Peter Esterhazy, Zeruya Shalev, Frank Schätzing, Lars Brandt, Roger Willemsen), losgelassen wurde (Bret Easton Ellis, Kurt Biedenkopf, Feridun Zaimoglu, Ralf Dahrendorf) und Preise bekam (Ilija Trojanow), können Sie Ihrer Fernsehzeitschrift entnehmen oder den Wald- und Wiesenbuchhändler Ihres Vertrauens fragen.
Auf dem Sofa sitzen, fernsehen, zusehen, wie Fernsehstars auf dem Sofa sitzen und in Richtung Wohnzimmerschrankwand talken - das ist die Rezeptionshaltung des unvermeidlichen Blauen Sofas, auf dem seit 1999 die so genannten Top-Ereignisse des jeweiligen Frühjahrs- und Herbstprogramms der deutschen Verlage wiedergekäut werden. Keine Sorge, auf der Leipziger Buchmesse kann man getrost daran vorbeigehen. Denn dieses Büchernarrenfest ist und bleibt eine einzige Aufforderung - zu entdecken.