Tonlose Todesfuge
Edgar Hilsenrath feiert seinen 80. Geburtstag. Es lohnt sich, ihm die Lektüre seines endlich wiederaufgelegten Erstlingsromans "Nacht" zum Geschenk zu machen
Von Jan Süselbeck
Besprochene Bücher / Literaturhinweise"Ich scheiß' auf Gott". Für Ranek, den Protagonisten in Edgar Hilsenraths großem Getto-Roman "Nacht", steht dieses negative Bekenntnis für den Versuch, zu überleben. Als er das sagt, hat Ranek gerade einem unterernährten Kleindkind eine Schüssel Suppe gestohlen, um sie gierig herunterzuschlingen. Die Drohung der hilflosen Mutter, Gott werde ihn dafür strafen, schert Ranek nicht.
So schonungslos wie der Shoah-Überlebende Hilsenrath hat in der deutschsprachigen Literatur nach Auschwitz wohl niemand beschrieben, wie der Alltag in einem jüdischen Getto zur Zeit der nationalsozialistischen Besatzung und ihrer rumänischen Handlanger wirklich ablief. Sein Roman ist ein einzigartiges Dokument geblieben, das in der Hilsenrath-Werkausgabe des Dittrich-Verlags im Jahr 2005 endlich neu aufgelegt wurde.
Am 2. April 2006 wird Edgar Hilsenrath 80 Jahre alt: Ein stiller alter Mann im Rollstuhl, der einen freundlich anlächelt, wenn man ihm bei einer seiner Lesungen begegnet. Welche abgründige Dimension es hat, daß er dabei nicht müde wird, seine "Liebe" für die deutsche Sprache zu betonen, kann man erst richtig ermessen, wenn man seinen gleichermaßen eindrucksvollen wie niederschmetternden Debütroman gelesen hat.
"Nacht" ist ein lakonischer, ein gewaltsamer Text - voller Dialoge, die den Leser wie unerwartete Faustschläge treffen. Man wird gezwungen, die Perspektive Raneks einzunehmen - eines Menschen, der keine Moral mehr kennen darf, wenn er dem für ihn vorgesehenen Tod irgendetwas entgegensetzen will. Sterbenden Menschen in eiskalten Nächten brauchbare Kleidungsstücke wegzunehmen, ist ein Weg. Selbst seinem eigenen Bruder Fred meißelt Ranek unmittelbar nach dessen Exitus den totenstarr verschlossenen Mund mit einem Hammer auf, um daraus einen - eventuell gegen Essbares eintauschbaren - Goldzahn an sich zu bringen.
Hilsenraths Figur handelt rational: Wer im fiktiven Getto Prokow teilt oder hilft, mindert seine Überlebenschancen in einer Weise, die die deportierte jüdische Gesellschaft als "verrückt" zu klassifizieren gelernt hat. Hilsenrath selbst überlebte das Getto von Moghilev-Podolsk, in dem bis zur sowjetischen Befreiung im April 1944 ca. 40.000 Menschen an Kälte, Hunger, Fleckfieber und Cholera starben - wenn sie nicht deportiert oder ermordet wurden. "Nacht" bringt diese Leidensgeschichte in eine kompromisslose literarische Form. Dem Autor gelingt es, das unmittelbare Grauen ohne Pathos, aber auch jenseits bloßen dokumentarischen oder autobiografischen Realismus' zu erzählen: Hilsenrath ist nicht Ranek.
Gleich von der ersten Zeile an konfrontiert uns das Buch mit dem furchtbaren Getto-Alltag. Die Figuren hasten zwischen Leichenbergen umher, um Schutz zu suchen vor den drohenden rumänischen Mordkommandos und der jüdischen Polizei mit ihren tödlichen "Razzien". Die permanente Suche nach irgendwelcher Notnahrung und der harte Kampf um einen überdachten Schlafplatz ohne Seuchen- bzw. Ansteckungsgefahr werden dabei seltsam ungerührt geschildert.
Ungläubig liest man sogar von "faulen Witzen", die sich die Menschen inmitten dieses Infernos immer noch heiser lachend an den Kopf werfen - und durchhastet die über 600 Seiten selbst beinahe atemlos, auf den unausweichlichen Tod Raneks zu, der das gnadenlose Ende dieser furchtbaren Geschichte markiert. Einen einzigen, letzten Hoffungsschimmer gönnt uns das Weiterleben seiner geliebten Schwägerin Debora. Doch auch sie scheint bereits an den Flecktyphussymptomen zu laborieren - eine merkwürdige Heiligenfigur, die selbst jetzt noch versucht, ein fremdes Baby zu versorgen. "Ihre Kehle war ausgetrocknet, ihr ganzer Körper schmerzte, als wäre er eine einzige, offene Wunde".
Hilsenrath schrieb nach seiner Rettung 12 Jahre lang an dieser dunklen Todesfuge. Beginnend in Palästina, dann weiter probierend im französischen Exil, wo er wie durch ein Wunder seine Familie wiederfand, und schließlich in den USA, wo der Schriftsteller bis 1975 lebte und den Roman 1958 endlich abschloss. Für das, was der heutige Wahlberliner im von den Deutschen so genannten Transnistrien erlebt und gesehen hatte, eine Form literarischer Mimesis zu finden, dürfte ein psychischer Kraftakt sondergleichen gewesen sein.
In Deutschland wurde der Roman erstmals 1964 im Münchner Kindler-Verlag herausgebracht und zugleich mit einer geringen Auflage von nur 1.200 Exemplaren beerdigt. Ein Buch über die Judenvernichtung, in dem der jüdische Protagonist die NS-Tätersicht auf seine Leidensgenossen übernehmen muss - das war für den verlogenen philosemitischen Publikumskonsens jener Zeit zu viel: "Wer krank war, sollte sterben", denkt Ranek im "Nachtasyl", als der Flecktyphus auch in dieses letzte Refugium eingedrungen ist, das er zuletzt als eine Art 'Zuhause' empfindet. "Kranke sind Ungeziefer. Wenn man sich ihrer rasch entledigte, bestand Hoffnung, dass die Gesunden davonkamen. Man würde das Zimmer dann wieder reinigen, und alles war wieder in Butter."
"So geht das nicht", empörte sich Fritz J. Raddatz 1978 in der ZEIT - über die zweite Auflage des Romans, die Hilsenraths neuer Kölner Verleger Helmut Braun gewagt hatte. "Nein, so geht das wirklich nicht. Die Ohnmacht der Sprache versehrt unser Entsetzen. Hilsenrath schafft das nahezu Unmögliche (und Unerlaubte)". Er mache "das Grausen langweilig", liefere anstatt der "Posaunen des jüngsten Gerichts nur Wortgeklingel, statt der Stummheit gegenüber dem Unsagbaren unsägliche Beredtheit: eine Nelly Sachs für kleine Leute".
Es ist allerhöchste Zeit, diese bornierte Sicht auf den Roman zu korrigieren. Ist es ja gerade nicht das von Raddatz vermisste pathetische Gedröhn, das die Stärke von Hilsenraths Buch ausmacht - sondern seine zurückgenommene, dialogisch-lakonische Struktur, die ganz ohne apokalyptisches Brimborium auskommt: Hilsenraths Buch erinnert vergleichsweise 'tonlos' an die Verbrechen der Deutschen. Und das, obwohl der Roman implizit von einer monströsen Schuld erzählt, deren Dimensionen jedem Versuch einer realistischen Abschilderung Hohn sprechen müssen.
Von den deutschen Tätern ist übrigens in "Nacht" auffälligerweise nicht ein einziges Mal die Rede. Naturalistisch ist der Roman also gerade darin, nach ganz unten zu leuchten: Dorthin, wo berechtigte Schuldzuweisungen und Anklagen längst dem bloßen Nachdenken darüber gewichen sind, wie man es überhaupt schaffen könnte, den nächsten Tag zu erleben - einen weiteren Tag im grauen Schlamm der Gettostraße, auf der Suche nach einer fauligen Kartoffelschale.
Nur manchmal legt man dieses Buch kurz zur Seite, um sich unwillkürlich daran zu erinnern, von welchem Land all dieses Leid konkret ausging. Hilsenrath erwähnt es nicht. "Sie sind der Angeklagte", muss sich seine jüdische Figur Zibulski trotzdem anhören. Zibulski begegnet uns allerdings nicht in "Nacht", sondern in dem informativen, von Helmut Braun herausgegebenen Sammelband "Verliebt in die deutsche Sprache", der - u. a. mit Texten aus Hilsenraths in der Berliner Akademie der Künste lagerndem "Vorlass" - von der "Odyssee des Edgar Hilsenrath" berichtet.
"Was habe ich eigentlich verbrochen?", fragt Zibulski den Pförtner eines deutschen Gerichts. "Sie haben sechs Millionen mal geschrieen", lautet die Antwort: "'Sechs Millionen Schreie, die wie ein einziger Schrei waren [...]. Und wir haben uns alle vor ihm erschreckt, denn es war, als wolle der Schrei uns anklagen.' 'Alle Deutschen?' 'Alle Deutschen'". "Das war nicht beabsichtigt", entschuldigt sich Zibulski.
Eine satirische Szene, die mehr über die bisherige Rezeption von "Nacht" aussagt, als ein Dutzend Doktorarbeiten. Die Neuauflage des Romans lässt hoffen, dass diese traurige Tradition noch zu Lebzeiten Hilsenraths endlich ihr Ende findet.
Anmerkung der Redaktion: Der Text erschien bereits in leicht gekürzter Form in der "Frankfurter Rundschau" vom 29. März 2006.
|
||||