Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden

Vladimir Jankélévitchs großer Essay "Der Tod" erscheint auf Deutsch

Von Stefan DegenkolbeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Degenkolbe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zwanzig Jahre nach dem Tod Vladimir Jankélévitchs erscheint endlich sein philosophisches Hauptwerk "Der Tod" in deutscher Sprache. Es gibt mehrere Gründe für die späte Veröffentlichung der Übersetzung; die erste französische Ausgabe war immerhin schon 1966 erschienen.

Zum einen hatte Jankélévitch persönlich kein Interesse an einer Zusammenarbeit mit deutschen Verlagen. Er wurde 1903 als Sohn russischer Juden in Frankreich geboren. Als Frankreich 1940 von Deutschland angegriffen wurde, wurde er zum Militärdienst eingezogen und kurz vor dem Waffenstillstand verletzt. Die von den Nationalsozialisten im besetzten Frankreich verhängten Sondergesetze verboten ihm die weitere Arbeit an der Universität. Er tauchte unter falschem Namen in Toulouse unter und schloss sich der Résistance an. Jankélévitch war von der Bosheit der Deutschen, die er erfahren hatte, so tief verletzt, dass er fürderhin alles Deutsche unbeugsam ächtete. Für ihn war Deutschland, das ihm gerade durch die Musik und die Philosophie viel bedeutet hatte, mit dem Nationalsozialismus erledigt.

Das zeigt sich auch daran, dass er in seinem Essay kaum Bezug nimmt auf aktuellere deutsche Philosophie: Nietzsche wird zweimal und Heidegger einmal beiläufig erwähnt. So ist es schon erstaunlich, dass überhaupt ein deutscher Verlag Anfang der 80er Jahre die Rechte zu Übersetzung von "La mort" erhielt. Die Aufgabe der Übersetzung wurde Brigitta Restorff übergeben, die sie in brillanter Weise gemeistert hat. Allerdings scheiterte der Verlag mit dem Projekt der Veröffentlichung: Brigitta Restorff überließ 1987 eine Kopie der fertigen Übersetzung Thomas Kapielski, dem heutigen Herausgeber von "Der Tod" in der Hoffnung, dass dieser einen Weg zur Veröffentlichung finden würde. Doch über lange Zeit wagte sich kein Verlag mehr an das große Projekt. Brigitta Restorff erlitt 1997 einen schweren Hirnschlag; bei der darauf folgenden Räumung ihrer Wohnung war das Originalmanuskript dann verloren gegangen. Nur durch Zufall fand sich später eine Kopie des Manuskripts die Kapielski 1987 angefertigt hatte und die zur Grundlage der jetzigen Veröffentlichung wurde. So ist es am Ende fast überraschend, dass "Der Tod" 40 Jahre nach seiner ersten Veröffentlichung erstmals auf Deutsch vorliegt.

Der Tod ist, oberflächlich betrachtet, erst mal ein recht banales Phänomen. Er ist bestimmbar und vorhersehbar, wann er eintritt hängt von verschiedenen Faktoren ab. Und wenn er eingetreten ist, lässt sich in verschiedener Weise mit ihm umgehen: statistisch geht die Bevölkerungsrate zurück, dieser Rückgang wird auf den Standesämtern vermerkt, Bestatter gehen ihrer Aufgabe nach, dem Verstorbenen nahestehende Menschen trauern auf ihre Weise etc. Eine völlig normale und alltägliche Sache, die gewissermaßen den Charakter eines Naturgesetzes hat: Alles was lebt wird irgendwann sterben.

Inwiefern ist also der Tod überhaupt ein philosophisches Problem und nicht vielmehr bloß ein statistisches, biologisches, verwaltungstechnisches? Der Tod ist eben mehr als dieses banale Alltagsphänomen: "der Tod ist eine Leere, die plötzlich mitten im Leben eines Wesens aufbricht; das Seiende, das wie durch eine wundersame Verfinsterung plötzlich unsichtbar wird, stürzt auf einmal durch die Falltür des Nicht-Seins." Das scheint das entscheidende Geheimnis des Todes zu sein: Dass das, was vorher ist, danach nicht mehr ist, überhaupt nicht mehr und nie wieder. Dieses Geheimnis erschließt sich weiter, wenn man den Tod aus verschiedenen Perspektiven betrachtet, aus denen der ersten, zweiten und dritten Person. Der oben angedeutete banale Tod, der allgemeine und alltägliche, ist der Tod aus der Perspektive der zweiten und dritten Person, es ist der Tod anderer. Der geheimnisvolle Tod ist der von der ersten Person aus betrachtete, der eigene Tod. Dieser eigene Tod ist ein angstvoll erwartetes Geheimnis, denn er betrifft das jeweilige Ich ganz und gar: Ich, der ich jetzt bin, werde nach meinem Tod nicht mehr sein: "Ach, wer stirbt, stirbt allein, geht den persönlichen Tod, den jeder für sich sterben muss, alleine an, macht den einsamen Schritt allein, den niemand für uns machen kann und den jeder, wenn seine Stunde gekommen ist, allein für sich vollziehen muss."

Hier beginnt für Jankélévitch das philosophische Problem. Wer über den Tod spricht, spricht über etwas, von dem er nichts weiß und von dem er nie etwas wissen wird. Denn wer lebt, der weiß noch nichts vom Tod, und wer tot ist, kann nicht mehr darüber sprechen. Und wenn einer dem "Tod ins Angesicht geblickt" haben mag, so hat er doch den Tod nicht gesehen. Denn der Tod ist absolut und wer durch den Tod gegangen ist, der kommt nicht mehr zurück. Und mag er noch so nah daran gewesen sein, solange er noch lebt, hat er den Tod nicht gekannt. Deshalb ist es so schwer, über den Tod nachzudenken.

Der Tod ist die völlige Verneinung, das vollkommene Nichts, und das Denken des Nichts ist ein Nicht-Denken. Wer den Tod denken wollte, der müsste tot sein, doch würde er dann nicht mehr denken: "Hier springt die Verneinung vom Objekt auf das Subjekt über, um es zu töten. Der Tod ist dieses Nichts, er ist die mörderische Verneinung. Der Tod ist nicht irgendein Gegenstand!"

Jankélévitch zeigt, dass wir dieses Phänomen nicht denken können, doch was bleibt dann? Wir könnten über den Tod nachdenken, ihn denkend einkreisen, denkend auf ihn Bezug nehmen oder - und hier liegt der Grundgedanke von Jankélévitchs Philosophie - wir denken an etwas anderes als den Tod, nämlich an das Leben. Denn da sich das Nichts nicht denken lässt, "denkt, wer den Tod denkt, das Leben. Der Mensch ist dazu verurteilt, die Fülle zu denken und nur die affirmative Positivität des lebenden Sterblichen zu kennen!" Und so schreibt Jankélévitch unter dem Titel "Der Tod" einen grandiosen Essay über das Leben und über die Frage, welche Rolle der unbekannte und geheimnisvolle Tod für das Leben darin spielt.

Das Wichtigste ist, dass der Tod das Leben unvermeidlich beendet. Mit dem Tod hören alle Möglichkeiten des Lebens schlagartig auf, Möglichkeiten zu sein. Nur im Tod findet sich die vollkommene Unmöglichkeit. Für Jankélévitch ist das Leben in erster Linie der Raum, in dem Dinge möglich sind. Und das Leben ist ihm der höchste Wert überhaupt. Dadurch wird die Behauptung, etwas sei unmöglich, ein Verrat am Leben. Der Glaube an schicksalhafte Mächte und an die Unüberwindbarkeit wird bei Jankélévitch zum Verbrechen am Leben.

Häufig zeigt sich, dass diese Haltung Jankélévitchs aus seiner Zeit als Kämpfer der Résistance herrührt. Der Kampf gegen die Deutschen scheint für ihn der Moment gewesen zu sein, in dem ihm klar wurde, dass das vermeintlich Unmögliche möglich ist, und dass deshalb die Verpflichtung besteht, diese Möglichkeit zu ergreifen. Die Unmöglichkeit des Guten zu behaupten, ist zugleich Beginn und Gipfel des Verbrechens gegen das Leben: "Das Vergehen selbst als Schicksal zu betrachten ist nicht nur der Gipfel des Unverzeihlichen, es ist die Böswilligkeit in Reinform. [...] Der böse Wille wollte das Hindernis, er übertrieb es gar noch, um seiner Sache zu dienen, und wurde so böswillig schlechthin", schreibt Jankélévitch. "Ein Vulkanausbruch ist kein 'Skandal', wohl aber sind es der Krieg, der eine vom Menschen gemachte Geißel ist, und die Lüge. Die Lüge ist eine vom Lügner bewusst begangene Sünde und daher der Prototyp des vorsätzlich begangenen Unrechts. Das Vergehen hinzunehmen ist folglich nicht nur ein Fehler mehr, denn das Sich-Schicken in ein Übel, das nur aufgrund einer bewussten Böswilligkeit existiert, ist das Übel per se, oder um es noch einfacher auszudrücken: hinzunehmen, Schlechtes zu wollen ist bereits Böswilligkeit; das Sich-Fügen in die Böswilligkeit ist selbst schon Böswilligkeit, was sage ich! es ist die Böswilligkeit schlechthin, die Böswilligkeit a priori, die ureigenste Absicht ist, die schlechte Begründungen konstruiert und mit der alles seinen Anfang nimmt." Für Jankélévitch wird so die schiere Tatsache des Lebens zur unumgänglichen Verpflichtung dem Leben und den Lebenden gegenüber.

Und doch ist dies alles mit dem Tod für immer vorbei. Im Augenblick des Sterbens verlöschen alle Möglichkeiten, alles was getan ist, wird getan bleiben, keine Folge einer Tat kann rückgängig gemacht werden und keine Unterlassung nachgeholt werden. Der Tod ist das schlechthin absurde Ereignis, das allem ein Ende setzt, auch dem Nachdenken über den Tod und das Leben. Aber selbst wenn jeder stirbt, es sterben nicht alle, immer bleiben andere zurück und kommen neue hinzu. Jeder einzelne Denkende stirbt, aber das Leben und das Denken selbst sind unsterblich, denn andere leben und denken weiterhin. Es geht Jankélévitch hier gar nicht darum, das Mysterium des Todes in einer billigen Weise aufzulösen, vielmehr will er zeigen, dass nicht der Tod, sondern das Leben ein Mysterium ist. Und hier darf Mysterium mit allen Anklängen an Ewigkeit und Heiligkeit verstanden werden, die diesem Ausdruck zu Eigen sind.

Der Tod, der kein Geheimnis ist, rückt erst den unendlichen Wert des Lebens ins Licht, der während der eigenen Lebenszeit meist unbemerkt bleibt. "Der Tod ist weder ein Ratespiel noch ein Rätsel. [...] das große Geheimnis ist (aber nicht verraten!), dass es kein Geheimnis gibt. Und wir wollen hinzusetzen, das genau hierin der Tod ein Mysterium ist. Dieses Mysterium ist ebenso das Mysterium unserer Alltäglichkeit, das Mysterium eines freundschaftlichen Blickes oder eines bedeutsamen Lächelns, eines unterdrückten Schluchzens oder eines flüchtigen Einverständnisses, das Mysterium der vertrauten und wohlwollenden Dinge, die uns von der Wiege bis zum Grab begleiten."

Jankélévitchs Essay folgt einer Linie, die vom Tod als geheimnisvolles, unaussprechliches Paradox ausgeht und beim absoluten Wert des Lebens endet. Wenn der Tod so geheimnisvoll erscheint, liegt das nur daran, dass der Wert des Lebens, der durch ihn offenbar wird, nicht erkannt wird. Auf seinem denkerischen Weg streift Jankélévitch alle Facetten des Todes und des Sterbens - und es ist ihm dabei zweierlei in bewundernswerter Weise gelungen. Einerseits ein optimistischer und in einer tiefen Weise lebensbejahender Essay, andererseits etwas, das vielleicht noch viel seltener ist: ein nicht nur kluges, sondern auch ein schönes philosophisches Werk.


Titelbild

Vladimir Jankélévitch: Der Tod.
Übersetzt aus dem Französischen von Brigitta Restorff.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2005.
574 Seiten, 39,80 EUR.
ISBN-10: 3518584464

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