Jenseits von Balzac und Houellebecq

Junge französische Literatur

Von Karen StruveRSS-Newsfeed neuer Artikel von Karen Struve

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Endlich. Endlich kommen Übersetzungen von Textpassagen oder ganzen Kurzgeschichten der französischen Gegenwartsliteratur auf den deutschen Buchmarkt. Und mit Gegenwartsliteratur sind in dem Band "Tour de France. Junge französische Literatur" literarische Texte der letzten sechs Jahre von jungen Autoren und Autorinnen gemeint, die zwischen 1967 und 1979 geboren sind - nicht nur in Frankreich, sondern auch in Brüssel, Tübingen oder Algier.

Der Hintergrund der Covergestaltung verweist schon auf die Themen, die junge Autoren umtreiben. Höhenlinien schlängeln und verknäueln sich auf einer Landkarte, deren Städte und Ortschaften Namen jener Momente tragen, die die Schicksale der Menschen bestimmen: tendresse/Zärtlichkeit, désir/Begehren, espoir/Hoffnung, doutes/Zweifel, indices/Indizien etc.

"Die Texte sind nicht vergleichbar, nicht einmal repräsentativ, sie demonstrieren aber die Vielfalt und Originalität der jungen französischen Literatur." So fasst die Herausgeberin Annette Wassermann die Auswahl der Texte zusammen - ein Querschnitt, der nicht mehr will, als literarische Arbeiten junger Autoren einem deutschen Publikum zugänglich zu machen. Dass Autoren- und Leserseite gleichermaßen an die literarische Hypothek der großen französischen Kanonliteratur und der engagierten Schriftsteller sowie an den Exportschlager und das "enfant terrible" Houellebecq gebunden sind, stellt die Herausgeberin lediglich fest und versucht gerade mit den hier versammelten Texten die Diversität der literarischen Strategien des Umgangs damit zu zeigen.

Martin Page lässt in seiner Erzählung einen Mann auf seine Henkerin treffen. In einem Café trifft er die charmante und höfliche junge Dame, die von seiner Frau für einen letzten Liebesbeweis engagiert wurde. Und so stehen der Ehemann und die Mörderin in der Damentoilette und parlieren höflich über die Todesarten, die sie ihm anbieten kann, ihre Schwangerschaft, seine Liebe zu seiner Frau. Sie machen sich gegenseitig Komplimente, bis es zum Äußersten kommt. Der Tod spielt auch in den Erzählungen von Olivier Adam und Thomas Gunzig eine zentrale Rolle - in Form einer toten Giraffe im Vorgarten des Protagonisten bei Olivier Adam und in Gestalt der toten Nachbarin, die sich in der Badewanne die Pulsadern aufgeschnitten hat und auf eine merkwürdige Weise den Erzähler und einen Nachbarn in ihrer Wohnung zusammenbringt.

Frankreich als Einwanderungsland ist auch und gerade bei den jungen Literaten ein Thema. Endlich erscheint ein Auszug aus dem verrückten Roman "Allah superstar" von Y. B. in deutscher Übersetzung, in dem Kamel Hassani, ein junger Mann aus der banlieue, sich in einem Monolog der Leserschaft vorstellt. Er redet in seiner schnoddrigen Umgangssprache eindringlich auf den Leser ein und stellt in einem Atemzug fest, dass es für einen Beur leichter ist, der Al Qaida beizutreten, als im Fernsehen eine ernsthafte Karriere zu machen. So handelt er in seiner naiven und direkten Sprache Diskriminierungen in Frankreich und Algerien, den Algerienkrieg, islamische Praktiken und Fundamentalismus, den 11. September und das Show-Biz ab. Und schließlich versucht er all das zu vermarkten, indem er mit einem Terroristensketch reich und berühmt werden will. Auch in der Kurzgeschichte von Bessora weiß die Erzählerin ihr Dasein als Ausländerin zu nutzen. Sie kehrt die marginalisierende, eurozentrische Perspektive um, beschreibt ihre Jagd nach der "Aufen'hal'sgenehmigung" und steht schließlich "in der Rue de la Grande-Truanderie vor den Toren des Tempels [...], Amt für Angelegenheiten ausländischer Studierender." In diesem Tempel begegnen ihr Beamte in der Gestalt körperloser, kreolisch sprechender Gesichter, "Weißhäute", Polizisten als Haremswächter und Verwaltungspriesterinnen.

In "Franck am Telefon" von aZel luKa beschreibt der Erzähler die Erinnerungen an eine Nacht, in der sein Freund Franck ihn atemlos anruft und um ein sofortiges Treffen bittet. Die Erinnerung ist deshalb so lebendig, da sich zwei Erlebnisse verbinden: ein ungewöhnlich nettes Gespräch mit der heimlich angebeteten Chefin Magdalena und der ungewöhnliche, weil ungewohnte Anruf von Franck. Die durchgehende Kleinschreibung der Wörter - mit Ausnahme der Eigennamen von Franck und Magdalena - treibt den Text bis zum Treffen mit Franck voran und macht deutlich, dass nur die Personen und letztlich weniger die alltäglichen Erlebnisse in Erinnerung bleiben. Und so bleibt auch der Anlass, aus dem sich Franck mitten in der Nacht mit dem Erzähler in einer Bar treffen will, komisch belanglos. Und während sich Franck und sein Freund in der Bar getroffen haben, wartet der Ich-Erzähler der wunderbaren Erzählung "Phantome (und Du)" von Arnaud Catherine in einem Restaurant vergeblich auf seine Angebetete. In ihm steigen Zitate aus Werken von Camus, Nobécourt, Rhys, Barthes und Gary auf, die ihm seine Verwirrung zu erklären und in Worte zu fassen suchen. Da beginnt der Erzähler diese literarischen Stimmen aufs Tischtuch zu schreiben. Über die Buchseiten und über das Tischtuch ergießen sich verstehende, verstörende Worte aus den literarischen Werken. Und schließlich setzt sich ein junger Asiat zu dem Erzähler, erzählt als Figur aus dem Film "Happy together" von der unglücklichen Liebe zu seinem Geliebten.

Konflikte und Krisen zwischen Eltern und ihren Kindern sind die Themen der Geschichten von Valérie Mréjen und Philippe Besson. In der Erzählung von Mréjen richten die Eltern das vorwurfsvolle Wort an ihre Kinder, in "Liebe Eltern" von Besson macht Vincent seinen Eltern ein Geständnis über sein Leben. Er schreibt ihnen einen langen Brief und wundert sich, warum er noch nie einen Brief an sie geschrieben hat, warum es so viel Schweigen in der Familie gegeben hat. "Schließlich war uns das Schweigen, das Ungesagte immer lieber. Uns ist der äußere Anschein meistens genug."

Die Schriftsteller und Schriftstellerinnen erzählen schonungslos über die Bedingungen der Menschen in der Gegenwart, entwerfen skurrile Szenarien, erzählen Geschichten, die "unter der Haut liegen". Denn gerade das Öffnen und psychologische Ausweiden ihrer Figuren liegt ihnen fern, vielmehr beschreiben sie das Wechselspiel zwischen einer eigentümlichen leichten Oberflächlichkeit und einem abgründigen Tiefgang. So ist es nicht verwunderlich, dass zwei der Erzählungen während und nach einer Operation spielen: Eliette Abécassis' Erzählung "Im Saal", in der junge Chirurgen über ihrem Geplauder über den Hintern einer Apothekerin unaufmerksam werden und ihren Patienten fast verbluten lassen und Philippe Adams "Chirurgie", die die Folgen der Gesichtsoperationen eines Elternpaares beschreibt: Die Gesichter werden in gleichem Maße jung und straff gezogen, so dass sie nur noch in einem "wir" erzählen können und nicht mehr als Individuen erkennbar sind.

Der Titel des Sammelbands führt die Leserschaft auf eine falsche Fährte - von einer stereotypen "Tour de France" kann in vielerlei Hinsicht nicht die Rede sein. Es handelt sich nämlich weniger um etablierte, geschweige denn kanonisierte Texte oder um eine Zusammenschau von Texten des Hexagons. Hier sind endlich Erzähltexte versammelt, die trotz oder gerade durch eine Rückkehr zur Erzählung ein weites Spektrum an Themen und Erzählstrategien, sprachlichen und intertextuellen Spielereien vorführen. Und so kann Annette Wassermanns Sammelband neben den auch in Deutschland bekannteren Autorinnen Anna Gavalda, Claire Legendre und Virginie Despentes weitere junge Schriftsteller und Schriftstellerinnen bekannt machen und damit den Blick für den regen Betrieb der jungen Literatur in Frankreich öffnen.


Titelbild

Annette Wassermann (Hg.): Tour de France. Junge französische Literatur.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2005.
192 Seiten, 9,90 EUR.
ISBN-10: 3803125081

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