Lektüren der Figur

Fotis Jannidis über die Erzähltheorie der Figur

Von Dietmar TillRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Till

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Fotis Jannidis geht in seiner Arbeit "Figur und Person. Beitrag zu einer historischen Narratologie" von einer zunächst überraschenden Beobachtung aus: Obwohl Figuren Erzähltexte unterschiedlichster Couleur bevölkern, existiert noch keine substanzielle Theorie der Figur. Diese möchte die literaturtheoretisch ausgerichtete Studie liefern; sie leistet damit Basisarbeit an den Fundamenten der germanistischen Literaturwissenschaft, die sich, so die Diagnose des Verfassers, bis dato mit der "Teilnahme an der internationalen Forschung" auf dem immer weiter expandierenden Feld der Narratologie schwer tue.

Die Schelte auf das eigene Fach macht deutlich, dass Jannidis für seine Arbeit kaum auf deutsche Beiträge zur Erzähltheorie zurückgreifen konnte. Er knüpft vielmehr an rezente Strömungen der internationalen Diskussion an, die von englischsprachigen Beiträgen dominiert ist, erbringt also auch eine nicht gering zu schätzende Vermittlungsleistung. Die neuere Narratologie wendet sich vom älteren strukturalistischen Paradigma (repräsentiert vor allem durch Autoren wie Roland Barthes und Gérard Genette) vor allem darin ab, dass erzählende Texte nicht mehr als statische Gebilde beschrieben werden. Narrative Texte - Zeitstrukturen, die Erzählerstimme aber auch die Figuren - entstehen vielmehr erst im Kopf des Lesers, also in einem Interaktionsprozess zwischen dem Erzähltext und dem Rezipienten. Dabei trägt das kulturelle Wissen des einzelnen Lesers ebenso viel zur Sinnstiftung und zur Konstruktion der erzählten Welt bei wie die Strukturen des Textes. Diese rezeptionstheoretische Ausrichtung wird seit den 1990er Jahren mit dem Etikett der 'kognitiven' oder auch der 'kulturwissenschaftlichen' Wende in der Narratologie versehen. In diese neuere Strömung reiht sich auch Jannidis' Studie ein, die den programmatischen Untertitel 'Beitrag zu einer historischen Narratologie' trägt. Für Literaturwissenschaftler resultiert nämlich aus dem Einbezug des Lesers ein hermeneutisches Problem: Es macht selbstverständlich einen großen Unterschied, ob wir heute am Beginn des 21. Jahrhunderts Goethes "Werther" lesen oder ein Leser (oder gar eine Leserin) des Jahres 1774. Jede Interpretation muss dies berücksichtigen und versuchen, den 'historischen Leser' zu rekonstruieren. Die kognitive Wende der Narratologie führt also auch zu einer konsequenten Historisierung des Rezeptionsprozesses - und damit zu einem Problem, das sich im Kontext des klassifikatorisch-deskriptiven älteren strukturalistischen Theorieparadigmas überhaupt noch nicht stellte. Herauszuarbeiten sind in jedem Einzelfall die kulturellen Kontextbedingungen für den Aufbau von Bedeutungen. Sie bilden keinen festen und invariablen 'Code' aus, der vom Interpreten nur zu dechiffrieren wäre, sondern basieren auf dem Prinzip der - wie es heißt - "inferenzbasierten Kommunikation". Darunter ist zu verstehen, dass Rezipienten in einem dynamischen Lektüre-Prozess durch wahrscheinliche Schlüsse Mutmaßungen über die erzählte Welt anstellen.

Jannidis' Arbeit begreift sich insofern zu Recht auch als ein Beitrag zu einer "Cultural Analysis", auch wenn die historische Dimension in der stark theorielastigen Arbeit letztlich nicht eingelöst wird. Man vermisst beim Lesen schmerzlich einen Teil mit ausführlichen Beispielanalysen, die das Potenzial der Theorie erst zu erweisen hätten. Jannidis illustriert seine Thesen zwar durch Rückgriff auf ein Textkorpus, das bewusst breit angelegt ist, doch eine geschlossene Interpretation ersetzt der kursorische Rückgriff auf einzelne Sätze aus den literarischen Texten noch nicht. Am Ende bleibt ein unbefriedigender Eindruck, weil man nicht recht weiß, welche Leistungsfähigkeit in der ausführlich entfalteten Erzähltheorie tatsächlich steckt und wie (und ob) die Analysekategorien in der Praxis funktionieren.

Die etwas unübersichtlich aufgebaute Arbeit - zu diesem Eindruck tragen vor allem die wenig aussagekräftigen und weitgehend austauschbaren Überschriften bei - setzt grundsätzlich an. Untersucht werden zunächst allgemeine Aspekte literarischer Kommunikation nach der 'kognitivistischen' Wende zum Leser. Die Figur wird dabei beschrieben als ein 'Basistypus', der auf unserem alltagsweltlichen Wissen als Menschen beruht. Der Leser erkennt eine Figur im Text schon aufgrund minimaler semantischer Informationen, weil man z. B. den Aspekt der Sprache ganz automatisch einem menschlichen Wesen zuschreibt: Literarische Texte knüpfen an dieses Prinzip an, das in der Alltagskommunikation eine zentrale Rolle einnimmt, und sie spielen häufig mit solchen Konventionen. Jannidis verschenkt an dieser Stelle die Chance, eine Brücke zur gender-orientierten Narratologie zu schlagen: War die strukturalistische Narratologie etwa davon ausgegangen, dass die Stimme des Erzählers geschlechtlich nicht markiert ist, so hat vor allem die amerikanische Erzähltheoretikerin Susan Lanser darauf hingewiesen, dass die Geschlechtszugehörigkeit der Erzählstimme auf dem Prinzip einer 'Unschuldsvermutung' basiert, aufgrund derer wir automatisch von einer männlich kodierten Stimme ausgehen. Diese Zuschreibung aber gehört, so wäre mit Jannidis zu folgern, zu jenen grundlegenden Annahmen, die wir haben, bevor wir kommunizieren.

Literarische Figuren werden also einerseits, wie die strukturalistische Narratologie zu Recht postuliert, durch den Text erst erschaffen, aber dieser Konstruktionsprozess ist eben nur die eine Seite eines - auch kreativen - Austauschprozesses zwischen Leser und Text. Wichtig für die Identifikation einer Figur und ihre 'Präsenz' im Text ist sodann, dass Kommunikation stets innerhalb eines kontextuellen Rahmens stattfindet. Für literarische Texte heißt dies nichts anderes, als dass die Informationsvergabe durch den Textfluss gesteuert wird. Von Bedeutung sind also nicht nur die Informationen über eine Figur, sondern auch die Position im Text, an der diese Information gegeben wird. Gelenkt wird dies alles vom Autor, der in Jannidis' Buch als literaturwissenschaftliche Kategorie eine Wiederauferstehung erleben darf. Informationen über Figuren schließlich, so eine der Zentralerkenntnisse der Studie, werden nicht nur durch direkte und indirekte Charakterisierung vermittelt, also durch Selbstaussagen des Protagonisten, die Namensgebung, die Sprache oder durch Fremdaussagen anderen Personen, sondern auch durch Schlüsse (Inferenzprozesse), die erst vom Leser vorgenommen werden. Die semantischen Merkmale, die für die Charakterisierung einer Figur bedeutsam sind, sind also nicht nur als 'Code' im Text angelegt, sondern entstehen dynamisch im Rezeptionsprozess. Letzterer ist natürlich nicht völlig zufällig, sondern basiert auf bestimmten Schemata, z. B. Vermutungen über das Verhalten einer bestimmten literarischen Figur in bestimmten Gattungen (z. B. Typenfiguren wie der Diener in der Komödie). Aus diesen theoretischen Grundannahmen leitet die Arbeit - leider erst am Schluss und insgesamt zu knapp - ein interessantes Analysemodell ab. Es hätte jedoch insgesamt mit mehr Mut zur Systematik und Didaxe präsentiert werden müssen.

Fotis Jannidis' Buch ist der ambitionierte Versuch, Grundlagenarbeit im Bereich der Narratologie zu leisten. Es bietet ein konsistentes erzähltheoretisches Modell, dessen Leistungsfähigkeit in der Praxis in konkreten Analysen allerdings erst noch zu prüfen wäre.


Titelbild

Fotis Jannidis: Figur und Person. Beitrag zu einer historischen Narratologie.
De Gruyter, Berlin 2004.
294 Seiten, 88,00 EUR.
ISBN-10: 3110178079

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