Drei Frauen

Olga Tokarczuks Roman "Letzte Geschichten"

Von Daniel HenselerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Henseler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die alte Parka ist eine Vertriebene: Sie ist Ukrainerin und hat damals, vor langen Jahren, als Polen noch weiter im Osten lag, einen um fünfzehn Jahre älteren Polen geheiratet. Doch dann gab es Krieg, und wieder einmal "machte sich die Grenze auf den Weg und fand sich an einem völlig anderen Ort wieder". Parka und Piotr erwachten in einem neuen Land, die Russen marschierten ein. Polen waren hier nun nicht mehr erwünscht, das Paar musste wie viele andere westwärts fliehen. Unterwegs starb die kleine Tochter Lalka. Irgendwo im polnisch-tschechischen Grenzgebiet haben sich Parka und Piotr eine neue Existenz aufgebaut, weit oben in der Abgeschiedenheit der Berge.

In drei großen Kapiteln erzählt Olga Tokarczuk (geboren 1962) in ihrem neuesten Roman die Geschichten dreier Frauen. Parka, mit vollem Namen Paraskewia, hat ihr Unterwegssein an Tochter und Enkelin weitergegeben. Diese aber haben versucht, das schwierige Erbe ins Positive zu wenden.

Parkas Tochter Ida (54) ist Reiseleiterin geworden, sie begleitet Gruppen auf einer Rundreise, die von Warschau über Krakau, Prag und Berlin nach Wien führt. In der Mitte dieses Städtefünfecks, im Niemandsland in den Bergen liegt ihre Heimat. Eines Tages - ihre Eltern sind inzwischen tot - beschließt Ida, ihr Kindheitshaus noch einmal aufsuchen. Sie verunglückt mit ihrem Auto im Schneetreiben, verirrt sich und findet in einem unbekannten Haus bei einem älteren Paar Unterschlupf. Ida begegnet hier noch einmal ihrer Mutter, freilich nicht in Wirklichkeit, sondern in einer Art mythischer Vision.

Maja schließlich, die Enkelin, schreibt "Reiseführer für Yuppies" und tourt zu diesem Zweck mit ihrem zehnjährigen Sohn um die ganze Welt. Sie testet Hotels und trägt allerlei hilfreiches Material zusammen. Gerade befinden sich die beiden auf einer Ferieninsel im Südchinesischen Meer. In einem kranken Illusionskünstler, der sich auf die Insel zurückzieht, glaubt Maja, ihren verschollenen Vater zu erkennen.

Auf sehr feine Weise sind diese drei Geschichten miteinander verwoben, nur wenige Details deuten auf die Zusammenhänge zwischen den Einzelschicksalen hin. Eine dieser Einzelheiten ist - kaum zufällig - der Sternenhimmel: der Große Wagen, unter dessen Zeichen vielleicht das Geschick der drei Frauen steht. Er kann als Sinnbild für das Vertrieben- und Getriebensein gelesen werden, für jenen grundlegenden Mechanismus der Welt, wie Parka meint, nämlich "die Menschen einander zu entreißen, sie in verschiedene Richtungen zu verwerfen wie Püppchen, in einsame, umherirrende Pünktchen zu verwandeln, sie einander verlieren und vergessen zu lassen."

Die Geschichten zeigen uns Ida, Parka und Maja jeweils in einer krisenhaften Phase ihres Lebens. Jeder der drei Teile schildert in fast novellenartiger Erzählweise einen Höhepunkt, der in einer Atmosphäre der Verdichtung zugleich auch ein Schlaglicht auf das ganze Leben wirft und schließlich in einen Wendepunkt mündet. Auf je andere Weise handeln die drei Teile überdies von den "letzten Dingen": Olga Tokarczuks Roman ist auch ein Buch der Todesarten.

Der Roman ist überhaupt sehr dicht geschrieben, er ist reich an Verweisen, an Symbolen und Motiven. Manches Thema verdiente hierbei der besonderen Erörterung, etwa die Variation auf Thomas Manns "Tod in Venedig" in der Begegnung von Majas Sohn mit dem kranken Magier am Meer. Zudem müssten die Tiere Erwähnung finden, die leitmotivisch wiederkehren, besonders in Idas Leben, aber auch in Gestalt der Ziege Tekla, Parkas letzter Gefährtin nach Piotrs Tod. Der Kalender und das Vergehen der Zeit spielen genauso eine wichtige Rolle, was sich bereits in der Namengebung offenbart. Marzec ist der Monat März, und in Ida Marzec klingen vielleicht auch die Iden des März an: Die Geschichten der drei Frauen spitzen sich während des langsamen Übergangs vom Winter zum Frühling zu. Auch in Majas Namen klingt ein Monat an. Und schließlich ein letztes Beispiel für solches dichtes Erzählen: Paraskewia bezieht ihr Schicksal verschiedentlich auf dasjenige ihrer Namenspatronin, einer orthodoxen Märtyrerin. Damit werden aber auch die Geschichten der zwei anderen Frauen vor dem Hintergrund einer Heiligenvita lesbar.

Tokarczuk ist für ihr mythografisch-magisches Erzählen bekannt geworden. Im neuesten Roman bricht sich dieses vor allem in Idas Geschichte Bahn. Diesen Stil, der manchmal auch ins Esoterische kippen kann, muss man mögen. Er ist wohl nicht jedermanns Sache. In Parkas Erzählung tritt er allerdings in den Hintergrund. Die alte Frau kommt selbst zu Wort und schildert in bewegenden Sätzen ihre Ehe mit Piotr, den sie wohl nicht wirklich geliebt, an dessen Gegenwart sie sich aber dennoch gewöhnt hat. Sehr schön lässt Tokarczuk Parka die Verschiedenheit der beiden herausstellen. Bevor sie fliehen mussten, ging Piotr jeweils in die katholische Kirche, Parka hingegen betete in der orthodoxen. Danach trafen sie sich zum Mittagessen wieder.

Doch auch Temperament und Charakter waren von unterschiedlicher Art. Parka: "Er schaute aufs Ganze, ich auf die Einzelheiten. Er sah das Geld, ich die kleinen Münzen in der Tasche. Er die Jahreszeiten. Ich die einzelnen Tage. Er schaute aus dem Fenster, ich kratzte die schwarzen Pünktchen vom Glas, Fliegenkötel. Er sah ganze Jahre, ich nur die Abende. Er Verträge, Kriege und Frieden, und ich die Gesichter von Menschen, das Aneinandervorbeigehen auf der Straße, das Abwenden der Augen. Entsteht etwas aus dieser Andersartigkeit?"


Titelbild

Olga Tokarczuk: Letzte Geschichten. Roman.
Übersetzt aus dem Polnischen von Esther Kinsky.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2006.
298 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-10: 3421059020

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