Nuscheln gegen den Tod

Sprachkünstler und Stimmenvirtuose: Elias Canettis "Hörwerk" bei Zweitausendeins

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Wie gern ich vorlese, wissen Sie", schrieb Elias Canetti einmal seinem Lektor. "Es gibt kaum etwas, das ich lieber tue." Dennoch begann seine Laufbahn als Rezitator eigener Werke nicht gerade vielversprechend. Die ersten Lesungen, die Canetti als junger Autor in den 30er Jahren gab, gerieten zum Debakel. Legendär sein Vortrag der "Komödie der Eitelkeit" im Wiener Hause Zsolnay: So selbstvergessen und gewalttätig erweckte er als Ein-Mann-Ensemble die Albtraumgestalten zum Leben, die dieses Stück bevölkern, dass der entsetzte Franz Werfel ihn als "Tierstimmenimitator" verhöhnte und mit einem "So lassen Sie doch die Finger davon!" die Flucht ergriff. Nicht einmal jene beiden Zuhörer, auf die es ihm am meisten ankam, vermochte Canetti zu fesseln: All seine rhetorische Verwandlungskunst konnte nicht das "Augenspiel" zwischen Hermann Broch und Anna Mahler verhindern.

Wer die jetzt auf zwei CDs im praktischen Mp3-Format gesammelten Lesungen, Vorträge, Essays, Aphorismen und Gespräche Canettis hört, vermag diese Erinnerungen freilich nicht ganz ernst zu nehmen - so gebannt lauscht man seiner immer etwas zu schnellen, schnarrenden, ein wenig nuschelnden und doch zugleich so unglaublich intensiven und verwandlungsreichen Stimme. Selbst dann, wenn er merklich irritierten Journalisten feierlich verkündet, noch in 100 Jahren gelesen werden zu wollen. Ob er sich über den Tod empört oder seine bizarren Charakterskizzen wie die Bitterwicklerin, den Papiersäufer oder die Pferdedunkle zum Leben erweckt, ob er das surrende "-ä-ä-ä-ä-ä-" eines mysteriösen Bündels auf dem Marktplatz von Marrakesch nachahmt, oder den verlegenen Polizisten, der 1938 auf Geheiß der Nazis Broch verhaften musste: Man begreift schnell, warum in Erinnerungen von Weggefährten immer wieder der Sprachvirtuose und Stimmenkünstler Canetti gerühmt wird. Geschult an Karl Kraus und mit einem phänomenalen Gedächtnis begabt, setzte sich Canetti immer neue akustische Masken auf, die er zuvor auf seinen Streifzügen durch Berlin und Wien erbeutet hatte.

Das jetzt bei Zweitausendeins zusammen mit einem vorbildlichen Begleitbuch erschienene "Hörwerk" aus drei Jahrzehnten mit einer Gesamtspielzeit von 35 Stunden darf man daher als Geschenk bezeichnen. Die Herausgeber gruben in den Archiven der Rundfunkanstalten den größten Teil von Canettis Werk aus. Dazu dokumentiert die Edition noch die großen Debatten wie die mit Adorno, das berührende Gespräch mit seinem ehemaligen Geschichtslehrer Friedrich Witz, aber auch das wenig bekannte Gespräch mit dem Analytiker Alexander Mitscherlich.


Titelbild

Elias Canetti: Das Hörwerk 1953-1991. Prosa, Dramen, Essays, Vorträge, Reden, Gespräche.
Zweitausendeins, Frankfurt a. M. 2005.
Audio-CD 33 Stunden, 36,95 EUR.
ISBN-10: 3861506564

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