Leben am Computer

Über die menschliche Beziehung zum Computer

Von Matthias FrankeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Matthias Franke

Beziehungen finden nicht nur zwischen Menschen über computergestützte Medien statt, sonder auch direkt mit dem Computer. Anders als in der Netzkommunikation interagieren Individuen beim Entwickeln von Software nicht miteinander durch den Computer, sondern mit der Maschine selbst. Das Denken verschränkt sich während des Programmierens mit Denkmustern, die sich bereits in der Maschine manifestiert haben. Was vor dem Eingeben des Codes bloß der Gedanke des Programmierers war, bildet sich nun als Code auf dem Bildschirm und in der Maschine ab. Der Programmierer hat mithin Erlebnisse, die über den Eindruck des Künstlers, in seinen Werken weiterzuleben, hinausgehen mögen. Der Mensch verschmilzt vollends mit seinem Werk, der Maschine: "Also, ich meine, in jedem Programm erscheinen meine Gehirnstrukturen, stelle ich mir vor, kommen da wieder raus. Das finde ich das Ergreifende" meint ein 19jähriger Entwickler, von dem Christina Schachtner berichtet. Eine Anzahl einzelner Programmierer arbeitet derzeit an dem mutigen Projekt, das gesamte Ich durch ein Computerprogramm repräsentieren und weiterleben zu lassen. Angesichts der heutigen technischen Möglichkeiten mag das derzeit lediglich von jenem Realitätsverlust zeugen, den so manches Genie erleidet. Andererseits handelt es sich um die ersten professionelleren Versuche der Menschheit, E. T. A. Hoffmanns Sandmann und Frankenstein endlich aus dem Reich der Fantasie zu befreien und auf die reale Welt zu bringen. In der modernen Medizin wimmelt es schon jetzt von Cyborgs, Verbindungen aus Organischem und Mechanischem, die - wie Donna Haraway meint, "mit einer Intimität und einer Macht miteinander verbunden sind, wie sie die Geschichte der Sexualität nicht hervorzubringen vermochte". Dabei spielt doch Geschlechtlichkeit bei den Konstruktionen aus Organismus und Maschine oft keine Rolle. Die Cyborgs der Science Fiction können den binären Geschlechtercode unterwandern. In ihrer Mehrdeutigkeit und Ambivalenz durchbrechen sie die Diskursordnungen, die unserer Gesellschaft zugrundeliegen. Für Donna Haraway sind laut Randi Gunzenhäuser Cyborgs die ersten Geschöpfe einer Post-Gender-Welt, einer Welt, die Menschen nicht mehr eindeutig in weiblich und männlich unterteilt, in der das Geschlechterverhältnis kein Herrschaftsverhältnis bleibt. Die wenigsten Schwierigkeiten beim Umgang mit den neuen Wesen haben - wen wundert es - die Kinder: Spielzeugpuppen gab man nicht nur eine solide Kampfsportausbildung mit auf ihren Weg in die Kinderzimmer, sondern auch die Fähigkeit, sich computergestützt in Mischwesen aus Mensch, Maschine und Tier zu verwandeln. Die Meinungen der Kinder über die "Power Ranger"- Puppen gehen zwar auseinander, doch nach Sherry Turkle dürfte die Mehrzahl für einen liberalen Umgang mit den ambivalenten Wesen plädieren; etwa so: "Es ist nichts dabei, mit ihnen zu spielen, wenn sie halb das eine, halb das andere sind."

Nicht nur freie Programmierer, Autoren von Science Fiction und Kinder beschäftigen sich mit Mensch-Maschine-Kreationen und künstlichem Leben. Einen der ersten Erfolge der Artificial- Life-Forschung erzielte Ende der sechziger Jahre der Mathematiker John Conway mit seinem Programm "Game of Life". Das Computerspiel generiert evolvierende Strukturen, die sich selbst reproduzieren und deren Weiterentwicklung offen bleibt. Auf dem Bildschirm entstehen zeitgemäß psychedelische Formen höherer Ordnung, denen aber der durchschnittliche Benutzer nicht zugestehen würde, dass sie lebendig seien. Artificial-Life-Forscher definieren Leben eben anders als die meisten Alltagstheorien. Auf ihrer Konferenz von Alamos kamen sie 1987 überein, daß lebendige, künstliche Organismen folgende Eigenschaften aufweisen müssen:

Sie müssen eine Evolution durch natürliche Auslese durchlaufen.

Sie müssen ein genetisches Programm besitzen, in dem die Anweisungen

für ihre Funktionsweise und ihre Reproduktion niedergelegt sind.

Sie müssen ein hohes Maß an Komplexität aufweisen.

Sie müssen sich durch Selbstorganisation auszeichnen.

A-Life-Forschung entwickelt komplexe Systeme nach einem Buttom-Up-Ansatz. Sie legt bei Einzelzellen evolvierendes Verhalten an, damit diese durch ihre Vermehrung, ihr Zusammenspiel und ihre Veränderung im Prozess der Evolution intelligente Gesamtsysteme hervorbringen. Eine solche Methode ist das synthetische Pendant zum biologischen Konzept etwa des Ameisenstaats, dessen Leistung nicht auf der Intelligenz des einzelnen Insekts, sondern auf der des Systems, des Zusammenspiels beruht. KI-Forschung reproduziert dagegen in Computerprogrammen die dynamischen Prozesse eines neuronalen Netzes wie dem des Gehirns. Beim Versuch, der Maschine das Denken zu ermöglichen, verfolgt sie also eher eine Top-Down-Methode. Die Systeme, die beide Forschungsrichtungen bisher hervorbrachten, sind nicht so leistungsfähig, dass die Menschheit fürchten müßte, sich in absehbarer Zeit nicht mehr als die Krone der Schöpfung aufspielen zu dürfen. Doch erschüttern die A-Life-Systeme die Vorstellungen von Lebendigkeit. Kinder werden laut Sherry Turkle durch solche Programme animiert, eine neue Sprache, neue Wörter zu erfinden, die den synthetischen Geschöpfen gerecht werden. Dabei benutzen sie gleichzeitig technischen und psychologische Begriffe, beschreiben die A-Life-Systeme gleichzeitig als künstlich und als lebendig. Das, was bisher unvereinbar und undenkbar war, können sich Kinder innerhalb einer Mischexistenz zusammengeführt denken, deren Ambivalenz sie wie selbstverständlich akzeptieren.

Die Welt am Computer ist durch Mehrdeutiges und Ambivalentes geprägt. Die abwehrende Reaktion darauf delegiert nach Stefan Münker und Alfred Roesler die Ambivalenz allein an eine Virtualität, die strikt getrennt von der Realität gedacht wird. Der Wunsch nach klaren Dichotomien macht es nach Vilém Flusser schwer zu aktzeptieren, dass die Ausdifferenzierung von Technik und Gesellschaft der Moderne längst ein Spektrum von Territorien der Wirklichkeit aufgefächert hat, die allesamt sinnvollerweise weder als fiktiv noch als wirklich gelten können - sich diesen Begriffen entziehen. Die Welt des Computers bleibt trotz aller Mehrdeutigkeit, die in ihr augenfällig wird, genauso real wie jeder andere Raum menschlicher Erfahrung.