Ein tödlicher Ausflug

Edward T. O'Donnell erzählt vom traurigen Ende Little Germanys in New York

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dieses Buch ist gewidmet "den Unschuldigen, die bei den Katastrophen vom 15.6.1904 und 11.9.2001 ihr Leben ließen, den Tapferen, die so viele retteten, den trauernden Hinterbliebenen und der Stadt, die immer wieder aufersteht." Es ist ein weiter Bogen, den der Autor zu schlagen gedenkt von einem Unglück zu Beginn des 20. Jahrhunderts bis zum Einsturz der Twin-Towers am 11. September 2001. Es mag der Vergleich der beiden Ereignisse ein wenig gewagt erscheinen, doch in einer Hinsicht ist er zutreffend: Beide Ereignisse waren ein schwerer Schock für die Stadt New York, aus dem sie aber im Moment des Entsetzens sogleich schon neue Kraft zu schöpfen vermochte, durch den aufopfernden Heldenmut vieler Helfer sowie einem vorwärtsdrängenden optimistischen Selbstbewusstsein.

Die zu erzählende "Geschichte von Habgier und Achtlosigkeit, von unsagbarem Verlust und außerordentlichem Mut" ereignete sich am 15. Juni 1904. An diesem Tag waren fast 1.300 Menschen hinunter an den East River gekommen, um mit dem Schaufelraddampfer "General Slocum" einen Ausflug hinüber nach Long Island zu machen. Ein Festtag für die Menschen aus dem Stadtviertel "Little Germany". In diesem Teil der Lower East Side im südlichen Bereich Manhattans lebten viele der über eineinhalb Millionen Deutsche, die seit den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts als "Wirtschaftsflüchtlinge", wie man sie heute nennen würde, in das Land ihrer Hoffnungen und Träume gekommen waren. Einige der Ankömmlinge blieben zunächst in New York, der "deutschesten Stadt Amerikas", deren deutsche Bevölkerung zahlenmäßig nur noch von der in Berlin übertroffen wurde. In "Kleindeutschland", wie die Einwohner ihr Viertel nannten, lebten schließlich fast 60.000 Deutsche. Es waren keine wohlhabenden Menschen, weshalb "Little Germany nicht einfach eine ethnische Enklave, sondern auch ein dicht bevölkerter Slum mit allen dazugehörigen Problemen" war. Die hygienischen Verhältnisse waren miserabel, die Kriminalitätsrate hoch.

Auch wenn die Deutschen in "Kleindeutschland" in armen Verhältnissen lebten, so verfügten sie doch über handwerkliche Fachkenntnisse.

"1855 waren mehr als die Hälfte der Bäcker, Tischler, Schlosser, Schuster und Schneider der Stadt gebürtige Deutsche", während ihr Anteil unter den ungelernten und schlecht bezahlten Arbeitern der Stadt nur sehr gering war. Anders ausgedrückt: Die Deutschen kamen zu bescheidenem Wohlstand, der es ihnen schließlich ermöglichte, Little Germany zu verlassen. 1904 lebten nur noch 12.000 Deutsche in Little Germany. Doch blieben die Bindungen der längst in anderen Stadtteilen lebenden Deutschen an 'ihr' Viertel um die 1847 gegründete evangelisch-lutherische Kirchengemeinde St. Mark's bestehen. Zum jährlichen Ausflug der Kirchengemeinde, der am 15. Juni 1904 zum siebzehnten Mal stattfinden sollte, waren denn auch viele Ehemalige wieder ins Viertel gekommen.

Für mehr als tausend von ihnen, vor allem für Frauen und Kinder, endete der Ausflug tödlich. Kurz nach dem Ablegen brach auf der "General Slocum" ein Brand aus. Weil die Besatzung unerfahren im Umgang mit Feuer war, und zudem die Löschvorrichtungen auf dem Schiff marode und unbrauchbar waren, konnte sich das Feuer im Nu zum Inferno ausbreiten. In Panik vor dem Feuer fliehend sprangen viele Passagiere ins Wasser, wo viele von ihnen ertranken. Die einen konnten nicht schwimmen, die anderen hatten Schwimmwesten angelegt, die über Jahre vermodert waren, sich nun voll Wasser sogen und die Menschen in die Tiefe zogen. Während andere Passagiere sich verzweifelt an der Reling des Schiffs zu halten versuchten, steuerte der Kapitän das lodernde Schiff mit Volldampf statt ans nahe Ufer in flaches Gewässer weiter weg. Der Fahrtwind fachte das Feuer zusätzlich an.

Ein schreckliches Schauspiel für die Beobachter am Ufer: Das brennende Schiff stampfte verzweifelt den East River hinauf und strandete schließlich vor North Brother Island. Hier, nur wenige Meter vom Strand entfernt, starben trotz der verzweifelten Anstrengungen der mittlerweile eingetroffenen Hilfskräfte weitere Menschen.

Während nach einer kurzen Schockstarre eine Welle der Hilfsbereitschaft die Stadt ergriff, begannen die Untersuchungen zu den Ursachen der Katastrophe. Eine typische Mischung aus Nachlässigkeiten, Korruption, Geldgier und Unvermögen hatte das Unglück möglich gemacht. Doch die Versuche, die Verantwortlichen gerichtlich zu belangen, schlugen fehl. Einzig der Kapitän wurde als "Sündenbock" verurteilt, verbüßte aber nur einen Teil der Haftstrafe. Er starb 1927 im Alter von 90 Jahren.

An das Unglück erinnert ein 1905 errichtetes Denkmal. Der 15. Juni wurde als Gedenktag bis heute beibehalten. Die St. Mark's Gemeinde in der East Sixt Street wurde 1940 geschlossen. Die Kirche wurde zur Synagoge.

"Wie jeder gute Historiker habe ich mich bemüht, eine fesselnde Geschichte zu erzählen," erläutert der Autor in einer Vorbemerkung. Das ist ihm in der guten Tradition der angelsächsischen Storyteller bestens gelungen. Was aber dieses Buch über die fesselnd-traurige Geschichte des tragischen Ausflugs hinaus lesenswert macht, ist die Fülle an zusätzlichen eingewebten Informationen über das New York des beginnenden 20. Jahrhunderts. Es entsteht das anschauliche Bild einer Stadt im Daueraufbruch und wie sie ein derart schockartiges Erlebnis 'verarbeitet'. Da schließt sich der Kreis: Wir sind wieder beim 11.9.2001.


Titelbild

Edward T. O´Donnell: Der Ausflug. Das Ende von Little Germany, New York.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Eike Schönfeld.
Mare Verlag, Hamburg 2006.
420 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-10: 3936384932

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