Wolfgang Abendroth zum 100. Geburtstag

Grußworte zur Konferenz "Arbeiterbewegung - Wissenschaft - Demokratie"

Von Jürgen HabermasRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jürgen Habermas

Zwischen zwei Polen, der Arbeiterbewegung und der Wissenschaft, hat sich die politische Lebensgeschichte von Wolfgang Abendroth bewegt. Auf die Gewerkschaften hat Abendroth in der frühen Bundesrepublik große politische Hoffnungen gesetzt und in sie viele Anstrengungen investiert. In diesem Milieu hat er, wenn wir an Viktor Agartz und andere denken, Kampfgefährten gefunden; natürlich konnte er sie hier auch viel eher finden als in einer Universität, die sich im Hinblick auf Personen und Mentalitäten eine ungebrochene Kontinuität bewahrt hatte.

In dieser Universität hat Abendroth zwar einen zwar ziemlich einsamen, aber ironischerweise erfolgreicheren Kampf ausgefochten als auf der politischen und gewerkschaftlichen Bühne. Davon zeugt bereits die Festschrift zu Abendroths 60. Geburtstag, in der sich unter anderen Adorno, Bloch, Hans Mayer, Lucien Goldmann, Ossip Flechtheim und Helmut Ridder zu Wort meldeten;[1] den akademischen Erfolg machte erst recht zehn Jahre später, beim 70. Geburtstag, der vielstimmige Chor der Schüler und Kollegen deutlich;[2] und dieses Echo war 2001, mehr als anderthalb Jahrzehnte nach dem Tod, als das von Abendroth gegründete Politikwissenschaftliche Seminar sein 50-jähriges Jubiläum feierte, nicht abgeklungen.[3] Wiederum ein halbes Jahrzehnt später, aus Anlass der hundertsten Wiederkehr des Geburtstags, fragt nun schon eine Generation von Enkeln nach der Aktualität eines Denkens und Handelns, das ja seine Impulse wesentlich aus den Debatten und Konflikten der späten Weimarer Republik, als Abendroth studierte und sich der KP-Opposition zuwandte, empfangen hat.

Einige werden sich noch gut daran erinnern: Wenn sich Wolfgang Abendroth am Telefon meldete, intonierte er seinen Namen wie ein Fanfarensignal als eine Art Weckruf - das Abendrot verwandelte sich akustisch in eine Morgenröte. Abendroth kam mit seiner aufmunternden Stimme jedem Anrufer ohne Arg und Vorbehalt entgegen, setzte sich ihm, bevor er noch wissen konnte, wer es war, schutzlos aus. Wolfgang Abendroth gab der Welt einen Vertrauensvorschuss, den diese oft enttäuschte.

Mir war es immer ein Rätsel, aus welchem Fundus ein so verletzbares Gemüt nach so viel Verfolgung, soviel Niederlagen und Ängsten, und anhaltendem Schmerz, immer wieder Lebensmut regenerieren konnte - für sich und andere. Dabei spreche ich nicht einmal von den extremen Erfahrungen im politischen Untergrund, im Zuchthaus, im Strafbataillon, im griechischen Widerstandskampf und in britischer Kriegsgefangenschaft, nicht von den niemals ganz vernarbten Wunden einer politischen Lebensgeschichte, die wir Nachgeborene heute kostenlos als eine exemplarische Lebensgeschichte "feiern". Ich spreche nur von den ganz gewöhnlichen Beschwernissen des einzigen marxistischen Ordinarius in der frühen Bundesrepublik, der die Rückendeckung seiner Partei, der SPD, verloren hatte.

Das war Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre, als ich Wolfgang Abendroth kennen lernte. Sein ehemaliger Assistent, Rüdiger Altmann, hatte in einer Zeitung des RCDS soeben mit Carl Schmitt'schen Waffen eine Breitseite gegen den einstigen Lehrer abgeschossen. Ein Leitartikel der FAZ schilderte genüsslich die Farbe der roten Fahne, die schon in britischer Kriegsgefangenschaft über dem Zelt des Marburger Professors geflattert haben sollte. Das Echo dieser Denunziationen erlebte ich nach dem Seminar, zum Essen bei Abendroths, wenn die kleine Elisabeth von dem Unflat berichtete, dem sie morgens auf dem Schulhof, als Tochter ihres Vaters, in dieser stolzen Universitätsstadt wieder einmal ausgesetzt worden war. Später von Joachim Perels nach den Folgen des Ausschlusses aus der SPD gefragt, antwortet Abendroth im Hinblick auf seine eigene Person wie immer abwiegelnd, um dann hinzuzufügen: "Unterschätzt habe ich hingegen die Nachteile, die daraus für meine Frau und meine drei Kinder erwachsen würden."

Schon die bloße Existenz dieses Mannes wäre als anti-antikommunistischer Kontrast zum verschwiemelten Klima des Kalten Krieges Grund genug, um seiner zu gedenken. Auch wenn er nur Vorträge zur Mentalitätsgeschichte akademischer Mittelschichten zwischen den beiden Weltkriegen gehalten hätte - wie er es damals, 1961, am Beispiel der Korporationen der Weimarer Republik, vor dem Clausthaler Wingolf zu Marburg getan hat - auch dann wäre Abendroth ein Glücksfall gewesen. Aber er war mehr als bloß ein Zeuge jener Vergangenheit, die man damals glaubte, längst hinter sich gelassen zu haben. In Wolfgang Abendroth ehren wir heute einen großen Intellektuellen der Arbeiterbewegung, den Politikwissenschaftler und bahnbrechenden Juristen, dem wir den offensiven Anschluss an die bedeutenden Staatsrechtsdebatten der Weimarer Zeit verdanken.

Ich bin dem Autor Abendroth zum ersten Mal in der Bergsträßer-Festschrift begegnet und bedauere seitdem, dass er sich nicht entschlossen hat, eine Staatslehre zu schreiben. Aber für Generationen junger Politikwissenschaftler und Juristen ist Abendroth schon durch diese eine, innovative, in ihren Folgen gar nicht zu unterschätzende Auseinandersetzung mit Ernst Forsthoff zum Hermann Heller der Bundesrepublik geworden. Als Wissenschaftler war Wolfgang Abendroth immer zuerst Jurist; als Kritiker des Stalinismus hat er niemals vergessen, dass der Kampf der Demokraten immer auch ein Kampf ums Recht, um die Durchsetzung eines normativ richtigen Rechts sein muss.

Abendroth hat 1953 die Grundgesetzbestimmung vom demokratischen und sozialen Rechtsstaat so überzeugend interpretiert, dass der Sozialstaat heute als Legitimationsbedingung des demokratischen Rechtsstaates anerkannt ist. Er hatte damit die Perspektive verbunden, die Republik des Grundgesetzes, innerhalb dieses verfassungsrechtlichen Rahmens, zu einer sozialistischen Demokratie auszugestalten. Diese Perspektive ist heute mindestens aus zwei Gründen obsolet geworden. Die Konkurrenz der Gesellschaftssysteme ist inzwischen zugunsten eines globalen Kapitalismus entschieden, dessen inklusive Netzwerke keinen Ausgang mehr offen lassen. Und eine politische wie rechtliche Zähmung des Kapitalismus von innen, die nach wie vor, und dringlicher denn je auf der Agenda steht, ist innerhalb des nationalen Rahmens nicht mehr möglich, nachdem die kapitalistische Wirtschaft nicht länger in ein internationales System eingebettet ist, sondern umgekehrt die Nationalstaaten ihren Imperativen unterworfen hat.

Heute wollen wir untersuchen, ob Werk und Wirken von Wolfgang Abendroth auch noch für diese Fragen Wegweiser sein können.

1 H. Maus et.al. (Hg.), Gesellschaft, Recht, Politik (Luchterhand 1968).

2 F. Deppe et al. (Hg.), Abendroth-Forum (Verlag Arbeiterbewegung) 1977.

3 F. M. Balzer, H.M. Boch, U. Schöler (Hg.), Wolfgang Abendroth, Wissenschaftlicher Politiker (Leske) 2001.

Anmerkung der Redaktion: Jürgen Habermas habilitierte sich 1961 in Marburg mit der Schrift "Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft" bei Wolfgang Abendroth. Wir danken ihm, dass er uns seine Grußworte zur Konferenz "Arbeiterbewegung - Wissenschaft - Demokratie", die am 6. Mai 2006 von dem IG Metall Vorstand, dem Herausgeberkreis der Schriften von Wolfgang Abendroth und dem WISSENTransfer in Frankfurt am Main veranstaltet wurde, zur Publikation in literaturkritik.de zur Verfügung gestellt hat. Ein ausführliches Abendroth-Portrait von Frank Deppe ist im Marburger "UniForum" erschienen.