Im besten Sinn unzeitgemäß

Zur Aktualität Wolfgang Abendroths

Von Georg FülberthRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Fülberth

Am 2. Mai 2006 wäre Wolfgang Abendroth hundert Jahre alt geworden. Es sieht so aus, als fänden sein Leben und sein Werk zur Zeit nicht nur aus diesem Grund erhöhte Aufmerksamkeit. Gerade ist, verfasst von Andreas Diers, eine Teilbiografie erschienen. Sie behandelt die Jahre 1906 bis 1948. Eine Dissertation über die Zeit ab 1949 wurde gerade eingereicht. Friedrich-Martin Balzer brachte die zweite Auflage einer Bibliographie mit mehr als 1000 Titeln als CD-ROM heraus. Im Offizin Verlag beginnt eine Werkausgabe zu erscheinen. Am 6. Mai veranstaltet die IG Metall in Frankfurt/Main eine Tagung über Abendroth.

Offenbar wird hier eine neue Aktualität dieses Mannes gespürt. Dies dürfte mehrere Gründe haben.

Für alle, die ihn kannten, bleibt die Erinnerung an eine charismatische Person mit einer makellosen linken Biografie. Bereits der Vierzehnjährige war einer radikalsozialistischen Jugendorganisation beigetreten. Die KPD, deren Mitglied er bald wurde, schloss ihn 1928 aus, weil er den sich ankündigenden nächsten ultralinken Schwenk nicht mitmachen wollte. Er gehörte jetzt zur "Kommunistischen Partei Deutschlands - Opposition" (KPO). 1932 nahm die KPD ihn wieder auf. Zugleich war er Mitglied der Gruppe "Neu Beginnen", die die Spaltung der Arbeiterbewegung bekämpfte. 1937 wurde er zu vier Jahren Zuchthaus wegen "Vorbereitung zum Hochverrat" - sprich: Widerstand - verurteilt. 1943 in die Strafdivision eingezogen, wechselte er 1944 zu den griechischen Partisanen über. Nach britischer Kriegsgefangenschaft ging er in die SBZ, wo er in zwei Jahren eine Blitzkarriere absolvierte: Habilitation in Öffentlichem Recht in Halle, Professuren in Leipzig und Jena, Tätigkeiten in der Justizverwaltung und im Verfassungsausschuss des Deutschen Volksrats. Ende 1948 nahm er einen Ruf an die Hochschule für Arbeit, Politik und Wirtschaft in Wilhelmshaven an. Er hatte von Anfang an nicht in der Sowjetischen Besatzungszone bleiben wollen. Der lange schon beabsichtigte berufliche Übergang wurde im letzten Moment zur Flucht. Abendroth war 1946 in Großbritannien der SPD beigetreten. Ein Emissär ihres Ostbüros hatte ihn in Jena besucht und war auf dem Rückweg verhaftet worden. Jetzt gab es Anlass, Verfolgung durch das NKWD zu befürchten.

Seit 1951 Ordinarius für Politikwissenschaft in Marburg, stand Wolfgang Abendroth bis zu seinem Tod (1985) mit an der Spitze aller radikaldemokratischen und sozialistischen Oppositionen in der Bundesrepublik. Die SPD schloss ihn 1961 aus.

Jürgen Habermas, der, von Horkheimer in Frankfurt bekämpft, sich 1961 in Marburg mit Abendroths Unterstützung habilitieren konnte, nannte ihn 1966 den "Partisanenprofessor im Lande der Mitläufer" und bezog sich auf dessen "Lebensgeschichte, auf deren Folie wohl mancher die eigene Vergangenheit schonungsloser zu Bewusstsein bringen könnte, als es die Konvention verlangt". Er spielte damit auf die ewig angepassten Professoren und Beamten der postfaschistischen Bundesrepublik an. Heute gibt es eine Generation, deren Mitglieder auf "Brüche" in ihren (ehemals linken) Biographien stolz sind. Abendroths Weg verlief jenseits aller Varianten des deutschen Juste-Milieu.

Zum Leben kommt das wissenschaftliche Werk. Als andere sich gerade mal um den Zwanzigsten Juli bemühten, weil die BRD doch ein Alibi brauchte, hob er die Bedeutung des sozialistischen Widerstandes hervor. Er war einer der Ersten, die die Geschichte der Arbeiterbewegung zum Thema von Forschung und Lehre an der Universität machten. In den siebziger Jahren haben Jüngere daraus einen zeitweilig blühenden akademischen Industriezweig gemacht. Der ist heute weitgehend wieder stillgelegt. Abendroths schmale Bände "Aufstieg und Krise der deutschen Sozialdemokratie" (1964), "Sozialgeschichte der europäischen Arbeiterbewegung" (1965), "Einführung in die Geschichte der Arbeiterbewegung" (1985) werden die vergilbenden Papiermassen seiner Kollegen überdauern, weil bei ihm nie nur von der Vergangenheit die Rede ist, sondern auch von der Zukunft: der notwendigen, wenngleich nicht selbstverständlichen Aufhebung der Klassengesellschaft.

Noch dichter an der Gegenwart ist seine Grundgesetzinterpretation aus den fünfziger Jahren. Der ehemalige NS-Jurist Ernst Forsthoff hatte behauptet: "Sozialstaat" sei nur ein "Blankettbegriff", ohne praktische Bedeutung. Abendroth aber kombinierte die Artikel 3 (Gleichheit), 15 (Möglichkeit der Enteignungen), 20 ("demokratischer und sozialer Bundesstaat") und befand: Zurückdrängung der Kapitalmacht (bis zu ihrer Beseitigung) sei unmittelbarer Verfassungsauftrag. Der gewerkschaftliche Demonstrationsstreik sei ein Mittel auch plebiszitärer Demokratie. Man hat das abzuschwächen versucht: na ja, das Grundgesetz sei eben für Sozialismus und Kapitalismus gleichermaßen "offen". Abendroth verstand da keinen Spaß. Er wusste: Sozialstaat ist nicht gleich Sozialstaat. Immer gehe es darum, die Politische Ökonomie der Arbeiterklasse gegen diejenige des Kapitals zur Geltung zu bringen. Wer einwendet, das sei heute aber gerade nicht aktuell, denn man befinde sich doch nur noch in der Defensive, zeigt ungewollt, was anders werden muss.

Abendroth war ein Mann der sozialistischen Einheit. Deshalb passte er in bestimmten Situationen nicht mehr in die KPD und auch nicht in die Godesberger SPD, die den SDS los werden wollte. Lebte er noch, dann träte er für die Entstehung der neuen Linkspartei ein. Wäre er auch ihr Mitglied? Allenfalls an ihrem Rand. Er kam aus dem Zeitalter der Katastrophen, und er war revolutionärer Kommunist. Dies waren die Ausgangspunkte einiger praktischer Impulse, die auch heute noch wichtig sein können. Aber er ging doch zugleich darüber hinaus. Denkt man nur an die Gegenwart, nicht aber an Vergangenheit und Zukunft, dann ist Wolfgang Abendroth nicht nur aktuell, sondern zugleich im besten Sinn unzeitgemäß.