Zur (Dis-)Kontinuität der "Marburger Schule"

Ein Interview mit Frank Deppe über Leben und Werk Wolfgang Abendroths

Von Patrick EserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Patrick Eser

Patrick Eser: Herr Deppe, Sie haben 1961 ihr Studium der Soziologie in Frankfurt aufgenommen, besuchten die Seminare der Frankfurter Größen am Institut für Sozialforschung, Adorno und Horkheimer, und kamen dort in ersten Kontakt mit den Grundlagen der "Kritischen Theorie". 1964 wechselten Sie schließlich nach Marburg und setzten Ihr Studium auch bei Wolfgang Abendroth fort. Sie haben somit beide Schlüsselinstitute, an denen sich kritische Gesellschaftstheorie in der Bundesrepublik nach dem Faschismus etablieren konnte, aus unmittelbarer Nähe kennen gelernt. Gemein war beiden Instituten, dass sie ihre Gesellschaftsanalysen und -diagnosen an der Marxschen Theorie orientierten. Können Sie kurz beschreiben, was die zentralen Unterschiede in den jeweiligen Zugängen zur Gesellschaft und auch zum Marxismus waren?

Frank Deppe: Eine sehr komplexe Frage. Zunächst möchte ich festhalten, dass ich 1964 nach Marburg gegangen bin, um bei Heinz Maus am Institut der Soziologie mein Studium fortzusetzen. Abendroth war nicht der Grund für den Wechsel nach Marburg. Ich hatte in Frankfurt seit 1961 Soziologie studiert und ging nach Marburg, weil ich hörte, dass Maus auch zu den Vertretern der Kritischen Theorie gehört und dass er hervorragende Assistenten hatte, zur damaligen Zeit Karl-Hermann Tjaden, Jochen Bergmann, Eberhard Dähne.

Vor allem bin ich nach Marburg gegangen, um Hegel und Kant zu lesen, was ich im ersten Semester auch getan habe. In Frankfurt war mir klar geworden, dass die Kritische Theorie der Gesellschaft durch das Studium der philosophischen Grundlagen fundiert werden muss. In Frankfurt war - neben den persönlichen Eindrücken durch die großen Professoren (wobei mich zunächst Horkheimer mehr beeindruckt hatte als Adorno) - die Lektüre von Herbert Marcuses' "Vernunft und Revolution" und schließlich das Gastsemester von Herbert Marcuse im Jahre 1963 eine Art Aha-Erlebnis. Über die linkshegelianische Interpretation von Hegel und von Marx sowie der frühen Theoriegeschichte der Soziologie glaubte ich, die Grundlagen sowie die Intentionen der Kritischen Theorie besser zu verstehen.

Ich bin in Marburg in den SDS eingetreten. Über die Arbeit des SDS - ich war ab 1965 Mitglied des Bundesvorstands - bin ich mit dem Institut für Politikwissenschaft und mit Wolfgang Abendroth in engen Kontakt gekommen. Ich habe auch seit 1965 - zunächst als wissenschaftliche Hilfskraft - am Institut gearbeitet. Ich muss jedoch gestehen, dass seine ersten Vorträge und Vorlesungen, z. B. über das 100-Jahre-Jubliäum der Ersten Internationale oder seine Vorlesung über den Widerstand im Dritten Reich, mich - mit dem Hintergrund des Studiums in Frankfurt - mit durchaus fremden Gegenständen konfrontierten. Mir wurde bald bewusst, dass ich mir viel Wissen (vor allem auf dem Gebiet der Geschichte im Allgemeinen, der Geschichte der Arbeiterbewegung im Besonderen und Wissen über den Staat und die Verfassung) aneignen werden müsse.

In der Frankfurter Tradition führte der Zugang zum Marxismus - natürlich sehr verkürzt gesagt (denn es gab ja auch die empirischen Untersuchungen des Frankfurt Instituts) - über die Lektüre der Frühschriften von Marx zum ersten Band des "Kapital" - aber nur bis zum Ende des ersten Abschnitts über die Warenanalyse bzw. bis zum berühmten "Fetischkapitel". Wissenschaftsgeschichtlich ist bedeutsam: am Fetisch-Kapitel setzte Georg Lukács im so genannten "Verdinglichungsaufsatz" in "Geschichte und Klassenbewusstsein" (1923) an. Mit der Rezeption dieser Analyse beginnt die Frühgeschichte der "Frankfurt Schule". Bis Anfang der 30er Jahre hatten die "Frankfurter" um Horkheimer die Verdinglichungsthese noch einmal um die subjektive Dimension ("autoritärer Charakter") erweitert und schließlich später zur These von der verwalteten Welt (eine Variante von Max Webers düsterer Prognose über das "stählerne Gehäuse der Hörigkeit" bzw. später der Totalitarismustheorien) und zur Elimination der progressiven Potentiale der inneren Widersprüche kapitalistischer Vergesellschaftung ausgearbeitet. Für progressive Politik war da kein Raum mehr! Im amerikanischen Exil hatte sich nicht nur Bertolt Brecht über die "Tuis" erregt, die darüber philosophierten, dass es keinen Sinn mache, gegen die "Barbarei" zu kämpfen.

Bei Abendroth und auch seinen Mitarbeitern habe ich einen anderen Zugang zum Marxismus kennen gelernt. Für das Wissenschaftsverständnis von Abendroth war der historische Zugang zentral. Das heißt: Es wurden fokussiert die Untersuchung der ökonomisch-politischen Widersprüche der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, die Entwicklung der Kämpfe und der Kräfteverhältnisse zwischen den Klassen und die Veränderungen im politischen System und in den Rechts- und Verfassungsordnungen. Dazu kam, dass für Abendroth "Wissenschaft von der Politik" selbst politisch-praktisch wirksam war und normativ sein sollte - ohne auf den Anspruch der Objektivität wissenschaftlicher, auch empirischer Analysen zu verzichten. Der Frankfurter Ansatz führte in der Regel (was in der Zeit des Kalten Krieges zweifellos auch ein Verdienst war) zur Ideologiekritik. Seine Häupter verkündeten, dass eine Analyse der kapitalistischen Herrschaftsverhältnisse in ihrer Totalität unmöglich geworden sei - und dass die theoretische Fundamentalkritik dieser Verhältnisse nicht auf ein politisches Subjekt bzw. auf ein politisches Projekt der Emanzipation bezogen werden kann.

Am Marburger Institut wurden Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung und des Faschismus betrieben; wir beschäftigten uns mit der Entwicklung der Gewerkschaften, der Auseinandersetzung um die Notstandsgesetze - aber auch mit den sozialökonomischen und politischen Entwicklungen in der der so genannten "Dritten Welt" - bis hin zum Vietnam-Krieg. Der Soziologe Werner Hofmann, der Mitte der 60er Jahre nach Marburg kam, war Ökonom und hatte u. a. die Entwicklung der Arbeitsverfasssung in der Sowjetunion" historisch-empirisch untersucht. Bei dem Osteuropahistoriker Peter Scheibert gab es eine Gruppe um Richard Lorenz, die sich mit der Geschichte der russischen Revolution nach 1917 (also auch immer wieder mit der Frage, wie es zum Stalinismus kam) beschäftigte. Rudi Dutschke ist damals oft nach Marburg gekommen, um mit uns über solche Fragen zu diskutieren. Diese Arbeitsprojekte waren oft auch mit politischen Projekten im Rahmen der Arbeit des SDS verbunden, also z. B. mit einer Aufklärungskampagne über den Vietnam-Krieg oder der Bewegung gegen die Notstandsgesetze, die zwei ganz wichtige wissenschaftlich-politische Kongresse Mitte der 60er Jahre veranstaltete.

Patrick Eser: Wie würden Sie die Rolle von Wolfgang Abendroth bis in die 60er Jahre hinein beschreiben? Er war wohl der einzige Lehrstuhlinhaber in der frühen Bundesrepublik, der nie einen Hehl daraus gemacht hat, Marxist zu sein - sowohl von seinem wissenschaftlichen als auch von seinem politischen Selbstverständnis her. In seinem politischen Engagement und seiner Positionierung links von der SPD, die er in zahlreichen Debatten - seine Grundgesetzinterpretation, seine Kritik des Godesberger Programm der SPD, zu dem er 1959 ein Alternativprogramm entworfen hat -, vertreten hat, stand er seitens der bundesdeutschen Hochschullehrerschaft ziemlich allein da. Welche Bedeutung spielte dieses Engagement des "Partisanenprofessors im Lande der Mitläufer", wie ihn Habermas 1966 genannt hatte, im politischen Feld des Nachkriegsdeutschlands und vor 1968? War Abendroth ein Außenseiter oder gar mit Repressionen in diesen Zeiten des aggressiven Antikommunismus konfrontiert?

Frank Deppe: Um Wolfgang Abendroth zu verstehen, muss man natürlich wissen, dass er - geboren im Jahre 1906 - in einer links-sozialdemokratischen Familie aufgewachsen ist und die politischen Ereignisse vom Ende des Ersten Weltkrieges an bis 1933 bewusst miterlebt hatte - und zwar im kommunistischen Flügel der Arbeiterbewegung. Er war durch diese historischen Erfahrungen, vor allem durch die Niederlage der Arbeiterbewegung im Jahre 1933, durch die Arbeit im Widerstand, die Verfolgung (Zuchthaus, Strafbattaillon 999), aber auch durch die kurze Periode in der sowjetischen Besatzungszone (1946 - 1948), wo er erste Professuren (in Leipzig und Jena) inne hatte, geprägt. Als er nach Marburg berufen wurde, gab es aus der Universität massiven Widerstand - vor allem aus der juristischen Fakultät. Erst später löste er sich aus der Isolation. 1961 wurde er aus der SPD ausgeschlossen - weil er den SDS weiter unterstützte - und zeitweilig geriet er so noch weiter in die Isolation. Wenn man allerdings die Festschrift zu seinem 60. Geburtstag, die 1968 im Luchterhand-Verlag erschienen ist, zur Hand nimmt, stellt man fest, dass doch viele Prominente ihm die Ehre gaben (Rudolf Augstein, Otto Brenner, Ernst Bloch, Karl Dietrich Bracher und viele andere).

Patrick Eser: Kommen wir auf das von Abendroth angeregte wissenschaftliche und politische Feld zu sprechen. In der Geschichtsschreibung der bundesdeutschen Politikwissenschaft ist die Rede von der "Marburger Schule" oder auch der "Abendroth Schule". Symbolisierte Abendroth für konservative Paranoiker eine kommunistische Unterwanderungsgefahr, war er andererseits für viele junge Menschen Anlass, nach Marburg zu kommen und dort ihr Studium der kritischen Gesellschaftswissenschaften aufzunehmen. Wie können Sie es sich erklären, dass Abendroth trotz der widrigen Umstände - im Klima des aggressiven Antikommunismus galt jegliche Beschäftigung mit Marx und Engels schon als gemeingefährlich - einen nachhaltigen Einfluss nicht nur, aber auch auf die Hochschullandschaft ausüben konnte? Von den 74 Doktoranden, die Abendroth betreut hatte, sind immerhin 27 auf politikwissenschaftliche oder soziologische Lehrstühle berufen worden.

Frank Deppe: Die Bezeichnung "Marburger Schule" macht insofern Probleme, weil ja die berühmte Marburger Schule des Neokantianismus, die ja schon vor dem Ersten Weltkrieg existiert hatte, auf diesen Namen einen Anspruch hat - ansonsten ist "Marburger Schule" in den 70er Jahren überwiegend polemisch verwendet worden. Die Bezeichnung "Abendroth-Schule" ist zutreffender und ich würde gleich hinzufügen: "Abendroth-Schulen". Man muss den Begriff im Plural verwenden. Abendroth übte auf verschiedene Generationen seiner Schüler einen großen Einfluss aus, im Bereich der Wissenschaft, im Bereich der Politik, im Bereich des Journalismus und vor allem - denken Sie daran, dass das Studium der Politikwissenschaft zu Abendroths Zeiten zu 95% Lehrerausbildung war - im Bereich der Gymnasiallehrerausbildung, Schulleiter und so weiter. Ganz verschiedene Generationen haben sich auf Abendroth bezogen, und zwar überwiegend positiv - auch wenn sie in den 70er Jahren mit ihm politisch nicht mehr übereinstimmten. In diesen Jahren hat eine Generation von Abendroth-Schülern, so könnte man sagen, ganz Hessen politisch "beherrscht". Da war der hessische Ministerpräsident Hans Eichel, später Bundesfinanzminister, da war der Oberbürgermeister von Marburg Hanno Drechsler, da war der Landrat des Landkreises Marburg-Biedenkopf Kurt Kliem und es gab die Staatssekretärin im Wissenschaftsministerium Vera Rüdiger. Alle schwärmten, wenn der Name Abendroth überhaupt mal fiel - er war ihr Lehrer. Das waren alles Sozialdemokraten; sie sind Sozialdemokraten geblieben und hatten allesamt ihre Achtung, ihre persönliche Achtung vor Abendroth bewahrt.

Mit Jürgen Habermas ist ein ganz anderes Beispiel zu nennen, der natürlich kein Abendroth-Schüler ist. Er hat sich bei Abendroth habilitiert (nachdem Horkheimer die Habilitation von Habermas in Frankfurt verhindert hatte - übrigens wie auch Kurt Lenk, der von Frankfurt nach Marburg kam). Habermas hat bis heute, wie immer man seine Entwicklung beurteilen mag, eine persönliche Loyalität gegenüber Abendroth bewahrt.

Patrick Eser: Sie hatten es ja schon angesprochen, dass Anfang der 70er Jahre Abendroth-Assistenten auf Professuren übergeleitet wurden - das war der Fall bei Peter Römer, Reinhardt Kühnl und Georg Fülberth - oder, wie Sie, ernannt werden konnten. Wie gestaltete sich die Arbeit am Institut in den 70er Jahren, nachdem es Abendroth verlassen hatte? Welche Forschungsstränge konnten etabliert werden?

Frank Deppe: Wie Sie richtig gesagt haben, waren wir vier Schüler, Assistenten von Abendroth. Aus heutiger Sicht ist es durchaus ungewöhnlich für die Entwicklung eines Universitätsinstituts, dass aus dem Kreis der Schüler des alten Ordnarius' so viele für die Kontinuität von Positionen im wissenschaftlichen Bereich gewirkt haben, die sie mit Wolfgang Abendroth identifiziert haben. Diese Möglichkeit wurde einerseits durch die damaligen Universitätsreformen geschaffen; auf der anderen Seite gab es den enormen Druck einer starken Studierendenbewegung, die auch in Berufungsauseinandersetzungen eingriff. Natürlich haben diese Abendroth-Schüler nicht den absurden Versuch unternommen, den Meister zu kopieren. Seit den 80er Jahren haben sich übrigens die Bedingungen für die wissenschaftliche und politische Arbeit an den Hochschulen völlig verändert. Vieles ist historisch geworden. So musste jeder sein eigenes Profil - in der Abendroth'schen Tradition - entwickeln. Wir haben in Marburg viel zur Geschichte und Politik der Gewerkschaften gearbeitet. Ich selbst habe mich in Forschungszusammenhängen engagiert, die Probleme der Staatstheorie, der politischen Ideengeschichte, der Internationalen Politischen Ökonomie und schließlich seit einigen Jahren das Projekt "Politisches Denken im 20. Jahrhundert" betreffen. In diesen Tagen erscheint der erste Teilband des dritten Bandes, der die Zeit der "Systemkonfrontation" (von 1945 bis 1991) umschließt.

Patrick Eser: Sie sprachen von einer ungewöhnlichen Kontinuität, die nach dem Ausscheiden Abendroths aus dem Lehrbetrieb vorgeherrscht hat. Nach diesem Sommersemester werden Sie als letzter direkter Abendroth-Schüler in Ruhestand gehen. Inwiefern können Forschungsstränge kritischer Politik- und Gesellschaftsanalyse fortgesetzt werden? Kann man vielleicht sogar von einer ungewöhnlichen "Diskontinuität" sprechen? Oder gar von dem Phänomen des "Marxismus Emeritus", das Georg Fülberth schon 1999 in der "Zeit" beschrieben hatte: Dass marxistische Ansätze nach einer 30 Jahre währenden Duldung wieder aus den deutschen Universitäten gedrängt werden.

Frank Deppe: Das Problem der Kontinuität kritischer Gesellschaftswissenschaften stellt sich ja nicht nur in Marburg, sondern z. B. auch in Frankfurt: Es stellt sich die Frage, inwieweit die Kontinuität einer kritischen Gesellschafts-, Geschichts- und Politikanalyse fortgesetzt werden kann - allerdings unter den heutigen Bedingungen.

Wir haben uns - in den Arbeitszusammenhängen, auf die ich Einfluss nehmen kann - in den letzten Jahren mit der Erforschung der sozialökonomischen und politischen Entwicklung im Rahmen der europäischen Integration auseinandergesetzt und dabei einen Ansatz aus dem Bereich der "Internationalen Politischen Ökonomie" weiter entwickelt, den wir als "neogramscianisch erweiterte Regulationstheorie" bezeichnen. Wenn Sie so wollen, setzten wir darin - also in der Analyse des zeitgenössischen globalen und europäischen Kapitalismus und in der Analyse der sozialen und politischen Kämpfe, die in der "neuen Weltordnung" nach dem Ende des Kalten Krieges stattfinden - die Ansätze der Abendroth'schen Kapitalismuskritik aus früheren Jahrzehnten fort. Seit einiger Zeit nimmt das Bewusstsein davon zu, dass der von allen zivilisatorischen Barrieren befreite Kapitalismus immer mehr barbarische Verhältnisse schafft. Und die Kritik dieser Verhältnisse, auch die wissenschaftliche Kritik nimmt zu; sogar bei Leuten wie Soros oder Stieglitz, die weiß Gott keine Linken oder gar Revolutionäre sind, die sich aber Sorgen machen, ob denn dieses System der kapitalistischen Weltökonomie Bestand haben kann, wenn es nicht gelingt, diese zivilisatorischen Stützen und Formen der politischen Regulation, die Krisen steuern oder verhindern können, wieder einzuziehen.

Wir sind z. B. das einzige Institut der Bundesrepublik mit einem Schwerpunkt im Bereich der Genderforschung, mit einem starken Bezug zu der feministischen Bewegung mit unserer Kollegin Ingrid Kurz-Scherf und ihren Mitarbeiterinnen. Das ist ein ganz wichtiger Punkt, an dem man zeigen kann, was Kontinuität und gleichzeitig Aufhebung von Kontinuität der Abendroth'schen Linie bedeutet. Abendroth war ein traditioneller Marxist. Er hat zwar die Anfänge der feministischen Frauenbewegung in den 70er Jahren mitbekommen, aber er war ein typischer Repräsentant der patriarchalisch geprägten Arbeiterbewegung. Die Befreiung der Frau verstand er in der Perspektive von August Bebels "Die Frau und der Sozialismus". Zwei Frauen zu haben zwar bei ihm über die Geschichte der Frauenbewegung promoviert - das muss man dazu sagen. Und er war auch offen, aber er war halt ein typischer Repräsentant, mit allen Vorteilen und Nachteilen, dieser klassischen patriarchalisch bestimmten Arbeiterbewegung.

Die Universität wäre vielleicht gut beraten, in der heutigen Zeit, wo die Gesamtentwicklung im Wissenschaftssektor durch Kommodifizierungstendenzen und die Intensivierung des Wettbewerbs durch die Wissenschaftspolitik beherrscht wird, wenn sie einsehen würde, dass ein solches kritisches Profil des Fachs, das sich in dieser Tradition definiert - ich sage das natürlich mit einem gewissen ironischen Unterton - auf dem Markt und in der Konkurrenz um die zukünftigen Kunden einen Wettbewerbsvorteil gegenüber anderen Universitäten bedeuten kann. Das ist ein etwas bitterer Kommentar auf die gegenwärtigen Verhältnisse, die natürlich in ihrer Gesamttendenz sehr viel stärker in eine andere Richtung gehen. Diese ist gekennzeichnet durch die verwaltete Universität, die von der Logik der Betriebswirtschaftler, der Naturwissenschaftler und Informatiker beherrscht wird. In dieser hat die eigentümliche Figur des großen Intellektuellen, wie Abendroth oder auch die Frankfurter Größen sie repräsentiert haben, offenbar keinen Raum mehr.

Patrick Eser: Bei der Frage nach der Veränderung von Intellektuellenfiguren müsste man mit Sicherheit auch noch die Transformation der Öffentlichkeitsproduktion und -wirkung und auch der Medienlandschaft im Allgemeinen berücksichtigen.

Frank Deppe: Natürlich. Habermas hat gerade einen sehr interessanten Vortrag gehalten, anlässlich der Verleihung des Kreisky-Preises in Österreich, in dem er über die Intellektuellen sprach. Die großen Intellektuellen, die intervenieren und die als große Intellektuellen auch akzeptiert werden - da hat er sicherlich auch an sich gedacht -, die braucht man heute gar nicht mehr. Habermas führt das in seiner sehr klugen Analyse auch auf die Rolle der Medien und auf das Verhältnis von Publikum und Medien zurück, das sich völlig verändert hat - dass das Publikum immer stärker in eine passive Rezeptorenrolle versetzt wird und es diesem nicht ermöglicht wird, mitzudiskutieren und mitzudenken. Was er allerdings nicht sieht ist: Das sind die Intellektuellen, die sich mit den sozialen und politischen Kämpfen der Subalternen verbinden. Das Erstaunliche ist, dass die Bundesrepublik Deutschland - das wäre auch ein Thema einer Intellektuellendebatte -, in der sich so viele Intellektuelle in den 70er Jahren zu linker Theorie, zu Marxismus und zu Revolutionsgedanken bekannt haben, heute ein Land ist, in dem sehr viel weniger marxistische Professoren und Intellektuelle in den öffentlichen Diskursen teilnehmen, als dies z. B. in Großbritannien, in Frankreich, in Italien oder auch sogar in den Vereinigten Staaten der Fall ist. Der Großteil der deutschen Intellektuellen hat sich auf ziemlich schmähliche Weise an den herrschenden Block assimiliert. Eine Parallelbewegung natürlich, die in der Politik stattgefunden hat - von den Straßenkämpfern, die in die höchsten Etagen aufgestiegen sind.

Abendroth hat die Frage der Widerstandsfähigkeit des Einzelnen und der Intellektuellen auch unter den schwierigsten Bedingungen nicht nur im Widerstand nach 1933 vorgelebt, sondern auch später immer wieder gestellt. Deshalb verfügte er über einen hohen Sockel an moralischem Kapital! Abendroth fragt Anfang der 60er Jahre in einen Artikel: Was ist mit dem Marxismus und Sozialismus in der Bundesrepublik Deutschland? Er kommt dort zu dem Ergebnis: die Sache ist praktisch tot. Es gibt ein paar "Kleinst-Zeitschriften" mit Auflagen von ein paar hundert Heften. Das war das einzige Terrain des intellektuellen Austauschs - aber de facto war diese Linke an einer Art Nullpunkt angelangt. Abendroth fragte damals: Wie können wir das neu aufbauen? Und das war auch die Logik seines Wirkens.

Und wiederum - die Geschichte wiederholt sich zwar nicht - befindet sich die Linke in einer strukturell ähnlichen Situation: an einem Tiefpunkt. Der Linken stellt sich das Problem der "Rifondazione"! Nicht im Sinne der Kopie des italienischen Modells, sondern nur im Sinne des Begriffs: Neugründung - nicht Kopie, nicht Renaissance - das gibt's nicht! Eine Renaissance wird es nicht geben. Und in dieser so klaren hegemonialen Konstellation aus der Kritik der bestehenden Herrschaftsverhältnisse zu fragen: wie wird Gegen-Hegemonie aufgebaut? Was wären die Perspektiven einer anderen Welt? Worin besteht die Aufgabe der Intellektuellen, Alternativen zu formulieren? Wie sehen die Verbindungen zwischen den Intellektuellen und den wirklichen Bewegungen aus? Alle diese Fragen anzudenken und sich ihnen auch praktisch zu stellen, das wäre heute die zentrale Aufgabe von Intellektuellen - und da sieht es in der Bundesrepublik nicht gut aus.

Patrick Eser: Damit haben Sie ja schon ein wesentliches Element des Abendroth'schen Intellektuellenverständnisses erwähnt. Dass für ihn immer zentral war, dass die Intellektuellen die Zusammenarbeit mit den sozialen Kräften suchen, im Abendrothschen Fall hauptsächlich die organisierten Kräfte der Arbeiterbewegung. Wie schätzen Sie dieses Konzept heutzutage ein, in einer Situation, wo die organisierte Arbeiterbewegung sehr schwach da steht und kaum mehr Kraft hat, die Verteidigungskämpfe gegen den Sozialabbau erfolgreich zu führen? Wie schätzen Sie in dieser Situation diesen zentralen Punkt bei Abendroth ein: dass immer wieder die Vermittlung zwischen Intellektuellen und den organisierten sozialen Kräften gesucht werden muss. Was könnten die Perspektiven eines solchen Verständnisses heutzutage sein?

Frank Deppe: Schwierige Frage. Auch weil, wie ich schon gesagt habe, Abendroth da nicht kopierbar ist. Die Linie Abendroth kann nur fortgeführt werden, wenn sie sich einer gründlichen Selbstkritik unterzieht, wie das schon Rosa Luxemburg und andere immer wieder gefordert haben. Die Arbeiterbewegung, auf die sich Abendroth aus der Position der Zwischengruppen bezogen hat, die existiert nicht mehr. Und man kann auch davon ausgehen, dass sie nicht wiederkommt. Das Denken Abendroths in den Kategorien der Einheitsfront zwischen den beiden großen Blöcken der kommunistischen und sozialdemokratischen Arbeiterbewegung, das ist Geschichte - spätestens auch mit dem Ende der Sowjetunion. Insofern muss gewissermaßen neu gedacht werden, wie die Kritik der bestehenden Herrschaftsverhältnisse im Interesse der arbeitenden Menschen und vor allem auch im Interesse der Menschen, die zunehmend in diesem System marginalisiert und ausgegrenzt werden, artikuliert werden kann. Das wäre ja mit dem weiteren Begriff - ich will nicht den Begriff "multitude" nennen - der Subalternen zu denken. Die Begriffe "Arbeiterklasse" und "Arbeiterbewegung" würden ja heute auch eine gründliche Analyse dessen erfordern, was denn die Arbeiterklasse heute überhaupt ist und wie sie sich verändert hat gegenüber der traditionellen Arbeiterklasse.

Aber die Entwicklung, die wir in den gegenwärtigen Gesellschaften des entwickelten Kapitalismus oder auch den marginalisierten Sektoren feststellen: die zunehmende soziale Polarisierung, die Marginalisierung immer größerer Schichten, Enteignungsprozesse, wie David Harvey das in seinen Analysen formuliert - Enteignung von Rechten, von sozialen Errungenschaften, Abbau von Sozialstaatlichkeit. Alles das sind Merkmale dieser hegemonialen Konstellation nach dem Ende der großen Systemkonkurrenz, die das 20. Jahrhundert beherrscht hatte. Natürlich ist zunächst der große Schock der Niederlage des Sozialismus im 20. Jahrhundert zu verarbeiten. Ich vermute, das wird noch Jahrzehnte nachwirken, dass man nicht mehr naiv vom Sozialismus als einer Perspektive der Emanzipation, der Befreiung von Unterdrückung und Unmündigkeit sprechen kann. Eine Rolle spielen da natürlich auch die Verbrechen des Stalinismus, die zur Geschichte des Sozialismus hinzugehören. Es ist ein Teil von intellektueller Arbeit, die getan werden muss, dass die Bedingungen des Scheiterns der bisherigen sozialistischen Projekte des 20. Jahrhunderts gründlich analysiert werden. Was sich nicht geändert hat, und was auch verstärkten Reflexions- und Handlungsbedarf erfordert, sind die Widersprüche, die der Kapitalismus selbst produziert und zwar nicht nur im sozialen und ökonomischen Bereich, sondern auch und vor allem im kulturellen Bereich - durch die Durchkapitalisierung der Kultursphäre, durch die Kommodifizierung der Sphären des Geistes, des Überbaus - was Marx oder Gramsci sich überhaupt noch nicht vorstellen konnten - bis hin zur Durchkapitalisierung und Kommodifizierung des Körpers, über die Gentechnologie und die pharmazeutische Industrie usw. Alle diese Bereiche, an denen auch Kritik ansetzen muss, nicht nur Kritik von Entfremdung, sondern auch von Ausbeutung, von Ausgrenzung, von Marginalisierung und auch Kritik an wiederauflebenden Formen reaktionären Gedankenguts - das sind die Punkte, an denen intellektuelle Kritik und Reflexion anzusetzen hätte.

Von der Arbeiterbewegung sind in den westlichen Ländern natürlich die Restgruppen der alten Arbeiterbewegung übrig geblieben, kommunistische Parteien, sozialistische Gruppen, die auch bei Wahlen manchmal bis zu zehn Prozent erreichen - aber der Kern der alten Arbeiterbewegung hat überlebt in den Gewerkschaften. Die Gewerkschaften sind nicht als Ganzes die alte Arbeiterbewegung, sie können diesem Anspruch überhaupt nicht gerecht werden. In den meisten Ländern stehen sie, wie Sie schon gesagt haben, in einer Defensive: sowohl die Auszehrung der Kräfte im Inneren als auch die Angriffe, die auf den Bereich der Lohnaushandlung, der Mitbestimmung, der Arbeitszeitgestaltung usw. geführt werden. Dennoch hat - auch in Deutschland - in den letzten Jahren die Intensität der gewerkschaftlichen Kämpfe zugenommen - in den meisten Fällen nicht sehr erfolgreich - aber viele Analytiker und Beobachter dieser Entwicklung stellen fest, das man in einigen Ländern aus dem Tal der tiefen Niederlagen in den 80er und 90er Jahren herausgekommen ist. Wir haben äußerst interessante Phänomene von sozialen Bewegungen, wie jetzt z. B. die in Frankreich oder auch in anderen Ländern. Wir haben die Veränderungen, die in Lateinamerika stattfinden, wo sich die Widersprüche und sozialen Bewegungen schon wieder stärker als linke Projekte verstehen und artikulieren. Wir haben auf der anderen Seite die gewaltigen Veränderungen in Ostasien, insbesondere mit der Entwicklung in der Volksrepublik China und in Indien, wo sich eine neue Art des brutalen Kapitalismus entwickelt.

Auf allen diesen Feldern sind Intellektuelle herausgefordert, die neuen Qualitäten, die Artikulation der Widersprüche zu analysieren. In all diesen Bereichen findet Widerstand und nicht nur theoretische Kritik statt - Widerstand gegen inhumane Lebensbedingungen, gegen kulturelle Ausbeutung, gegen Enteignung. Diese verschiedenen Formen des Widerstands in ihrem inneren Zusammenhang zu erkennen und auch intellektuelle Kritik darauf zu beziehen, das ist eine wichtige Aufgabe, für deren Bearbeitung man an der Abendroth'schen Tradition anknüpfen kann, ohne sie kopieren zu müssen.

Patrick Eser führte das Interview am 26.4.2006 in Marburg.