Digitale Literatur
Anmerkungen zu Spielarten elektronischer Belletristik
Von Roberto Simanowski
Seit nunmehr vier Jahren gibt es in Deutschland Literaturwettbewerbe, deren Preisträger niemand druckt oder auf die Bühne bringt. Nicht, weil sie am Ende doch nicht so gut wären, um zwischen zwei Buchdeckeln verewigt oder Schauspielern als Textstoff aufgegeben zu werden, sondern weil sie nicht gedruckt oder inszeniert werden können. Die prämierten Werke sind ganz besonderer Art, sie bestehen aus Texten, die man nicht von links nach rechts und von vorn nach hinten lesen kann - manchmal muss der Leser die Texteile auch noch selber zusammenstellen, mitunter muss er sie gar erst schreiben. Es sind Texte, die sich über den Bildschirm bewegen, Texte, die sich mit Bild und Ton verbünden, kurz, es handelt sich um digitale Literatur.
Die Frage, was in aller Welt digitale Literatur sei, verursacht mit zuverlässlicher Regelmäßigigkeit entweder hilfloses Achselzucken oder, nicht weniger nachdrücklich, höhnische Worte, als wolle man einem Feinschmecker Cappuchino aus dem Fertigpäckchen anbieten. Lesen im Internet sei wie Musikhören übers Telephon, heisst es dann, was aber nur stimmt, wenn man sich "Faust" oder "Krieg und Frieden" am Bildschirm zu Gemüte führt. Natürlich ist das Internet auch voll von ganz normalen Texten, die durch den Eigenverlag auf der Homepage der Qualitätskontrolle eines Lektors zu entkommen suchen. Das ist 'Schmuggelware', die der digitalen Existenz nicht wirklich bedarf, sondern das Netz nur seiner besonderen Distributionseigenschaften wegen nutzt. 'Echte' digitale Literatur kann gar nicht gedruckt werden, weil sie auf Intermedialität, Multilinearität und Programmierung des Rezeptionsverlaufs basiert. Wie also funktioniert digitale Literatur?
Da ist z. B. die Geschichte von dem Mann, der sich über Nacht ins Kaufhaus einschließen lässt, für den Blick einer Schaufensterpuppe, die ihn anschaut, wie niemand ihn zuvor angeschaut hat. Das Bild neben dem Text zeigt einmal die linke, einmal die rechte Hälfte dieser Puppe. Immer ist nur eins der Augen zu haben. Am Ende sieht man nur sie, ohne Text, ganz im Profil - aber für weniger als einen Augenblick. Die Datei ist so programmiert, dass sie nach einer Sekunde verschwindet. Dieser witzige Einfall hat eine tiefere Bedeutung, denn wer jetzt "Zurück" drückt, um den Blick etwas länger zu erhaschen, ähnelt schon ein bisschen jenem Mann, der sich dafür ins Kaufhaus einschließen ließ. Das programmierte Verschwinden der Puppe ist die Fortsetzung der Geschichte mit wortlosen Mitteln, der Text eröffnet eine neue Bedeutungs- und Handlungsebene, in die sich der Leser plötzlich hineingezogen sieht. Man versuche einmal, so etwas zu drucken! Es handelt sich um eine Geschichte in "Trost der Bilder" von Jürgen Daiber und Jochen Metzger, den beiden Preisträgern des Wettbewerbs für Internetliteratur "Pegasus" 1998. Eine ausführliche Besprechung dazu befindet sich bei dichtung-digital (http://www.dichtung-digital.de/Simanowski/1-Sept-99/Puppe.htm).
Eine andere, ältere und bekanntere Spielform digitaler Literatur sind die Hypertexte, also die nichtlineare Anordnung der Textsegmente, die untereinander in verschiedenster Form verlinkt sind. Hier muss der Leser sich den Text selbst zusammenstellen, was zunächst so aussieht, als übernähme er die Arbeit für einen inkompetenten Autor, der nicht wusste, wie er seine Geschichte erzählen soll. Mitunter ist es denn auch wirklich nicht viel mehr als dies. Ein guter Autor jedoch wird die Textteile sehr gewissenhaft so miteinander verlinken, dass die Navigation immer wieder neue Perspektiven ermöglicht. Da kann eine zuvor banale Szene, in einem anderen Zusammenhang erneut gelesen, plötzlich einen tieferen Sinn entwickeln, der vielleicht beim nächsten Besuch, wieder aus einer anderen Richtung, einer dritten Lesart weichen muss.
Die Klick-Ästhetik vermag allerdings weit mehr bizarre Dinge. Sie kann den Leser zum 'Mörder' machen, wie in Susanne Berkenhegers Hypertext "Zeit für die Bombe", in dem ein Koffer versehentlich an eine unbefugte Person gerät. Im Koffer befindet sich ein Mechanismus, der wie eine Bombe aussieht, und dieser Mechanismus hat einen Schalter. Natürlich reizt es die Figur, den Schalter zu drücken, und natürlich ist es der Leser, der nun, statt auf "Zurück" zu gehen, den Klick ausführt, damit die nächste Seite erscheint. Hier weicht der Normalfall der Lektüre - die Beobachtung des Unglücks anderer - der Auslösung des Unglücks durch die Leser selbst. Die Bestrafung der Leser, die in diesem Werk nur angedroht, aber nicht ausgeführt wird, wäre übrigens kein Problem: Links können auch mit der Auslösung von Systemabstürzen u. ä. programmiert sein. Digitale Literatur ist interaktiv in vielerlei Hinsicht. Eine ausführliche Besprechung finden Sie unter http://www.dichtung-digital.de/Simanowski/2-Juli-99/brief1_0_x.htm.
Eine Variante der Interaktion sind die kollaborativen Schreibprojekte, in denen die Leser zugleich die Autoren sind. Da solche Projekte nur so gut sein können wie ihr schwächstes Mitglied, sind sie v. a. unter dem Gesichtspunkt einer sozialen Ästhetik interessant. Die erkennbare Gruppendynamik zwischen den Leser-Autoren ist oft die eigentliche Story: als Text über das gemeinsame Verfassen eines Textes, in dem die Leser-Autoren zugleich die Figuren sind. Das Mitschreibeprojekt "Beim Bäcker" zeigt anhand der Charakterisierung einer Figur und der Fortschreibung einer Handlung recht deutlich die Kämpfe, die verletzten Eitelkeiten und den Egoismus, der im Kollektivismus der Mitschreibprojekte zu finden ist. (Vgl. die Besprechung zum Mitschreibeprojekt "Beim Bäcker")
Andere Schreibprojekte sammeln Texte, die weniger aufeinander aufbauen, sondern sich jeweils in einen Rahmen fügen. So z. B. "23:40", in dem man jede Minute eines Tages mit einem Text füllen kann, etwa mit einem Erlebnis eben dieser Minute. Auf diese Weise soll, so der Projektleiter, das kollektive Gedächtnis eines abstrakten Tages entstehen. Die Pointe besteht darin, dass jeder Text nur dann lesbar ist, wenn seine Minute geschlagen hat. Wer den Text zu 3:07 Uhr lesen will, der ganz besonders spannend sein soll, muss schon ein bisschen länger aufbleiben. Wer ihn dann doch verpasst, muss 24 Stunden warten. Diese Etablierung eines Verlautbarungsanlasses gibt der Schrift nicht nur Züge der mündlichen Kommunikation, sie ermöglicht auch, durch Schweigen zu erzählen. So zwingt ein Autor, der um 9:18 die plötzliche Nachricht vom Tode eines Freundes berichtet, die Leser um 9:19 Uhr durch die Minimierung des Textes auf einen kurzen Satz faktisch zu einer Gedenkminute für jenen Freund. Ausführlicheres zu "23:40" finden Sie unter http://www.dichtung-digital.de/Simanowski/30-Dez-99.
Digitale Literatur hat viele Facetten und zweifellos eine große Zukunft, wenn die Entwicklung des Internet und der Software so weitergeht wie in den letzten Jahren. Die ersten Schritte werden jetzt unternommen, noch etwas unbeholfen, noch etwas unsicher über das Ziel der Reise und über den besten Weg dahin, aber mit unbeirrbarer Energie. Die damit verbundenen Diskussionen - z. B. in der Mailingliste Netzliteratur.de - zielen zunächst auf die Bestimmung dessen, was digitale Literatur bzw. Netzliteratur ist oder sein kann. Während man sich schnell einig ist, dass sie die genuinen Eigenschaften des neuen Mediums ausnutzen soll, herrscht Unklarheit darüber, was diese Eigenschaften denn eigentlich sind.
Das Problem beginnt mit dem Begriff: Während 'digitale Literatur' auf die digitale Existenz setzt (und damit auf Phänomene wie Multilinearität, Hypermedialität, Programmierung), schließt der Begriff 'Netzliteratur' andere digitale Medien wie Diskette oder CD ROM aus und akzentuiert das Phänomen der Vernetzung. In diesem Fall geht es (wie etwa bei der Performance) v. a. um den Akt der Produktion. Ein reiner linearer Text, zustandegekommen infolge einer netzspezifischen Kommunikationssituation, kann aus dieser Perspektive in stärkerem Maße Netzliteratur sein als ein multimedialer Hypertext, produziert von einem Autor am heimischen Desktop. Andere wieder sagen, wirkliche Netzliteratur muss das Netz selbst thematisieren.
Der oft so leichthin benutzte Begriff Netzliteratur ist heimtückisch durch die ungeklärte Beziehung seiner Komposita: Zum einen besteht die Frage, ob das Netz als Bezugsort absolut oder stellvertretend zu verstehen ist; im ersten Fall wären die anderen digitalen Medien aus- im zweiten eingeschlossen. Zum anderen besteht die Frage nach dem grammatikalischen Zusammenhang: Handelt es sich um Literatur 'im' Netz (Dativ), Literatur 'für' das Netz (Akkusativ), Literatur 'über' das Netz (genitivus objectivus) oder Literatur 'durch' das Netz (genitivus subjectivus)? Für jede Lesart gibt es eine Lobby und jede spricht über etwas anderes.
Eine zweite Frage ist, inwiefern es sich überhaupt um Literatur handelt, wenn neben den Texten auch audiovisuelle Elemente eingesetzt werden. Als Rechtfertigung mag man auf die Tradition und auf die Proportionalität verweisen. Als die Sache unter dem Begriff Hypertext Mitte der 80-er Jahre in den USA begann (dort verwendet man auch heute eher den Begriff Hypertext als Netzliteratur), handelte es sich in der Tat nur um Texte, die durch Links in multilinearer Weise verbunden waren. Der Akzent lag also ganz richtig auf Literatur. Heute verwenden auch die kanonisierten Autoren der Hyperfiction (wie Michael Joyce und Stuart Moulthrop) audiovisuelle Elemente. Insofern dabei das Wort noch immer die Hauptrolle spielt, mag man auch am Begriff Literatur oder eben Hypertext festhalten, wobei ein in der Forschung üblich gewordener erweiterter Textbegriff hier sicher gute Dienste leistet. Der Begriff digitale 'Kunst' bietet sich indes nicht an, da dieser durch seinen Akzent auf die bildenden Künste wiederum die Literatur ausschlösse. Wenn mit besserer Soft- und Hardware Bild- und Tonelemente den Wortanteil weiter zurückdrängen, wird man irgendwann freilich einen anderen Begriff benötigen: im Englischen könnte dieser 'netart' lauten, im Deutschen 'Gesamtkunstwerk'.
Eine dritte Frage, die mit der Ankunft eines neuen Mediums faktisch immer aufgeworfen wird, ist die nach dem Wesen der Kunst. Inwiefern ist Kunst intentional, zweckfrei, adressiert, thematisch bestimmt, sozialkritisch? Die Abgrenzung von Kunst gegenüber dem, was nicht Kunst ist, wird im vorliegenden Falle durch den Umstand erschwert, dass die ästhetischen Ausdrucksformen auf den Effekten der zugrundeliegende Technologie beruhen. Diese Effekte kennzeichnen das Medium insgesamt und sind, was Flash und Shockwave betrifft, sogar verstärkt auf den Websites kommerzieller Unternehmen zu finden, die sich die entsprechenden Designer leisten können. Dies verstärkt das von der Werbung schon bekannte Phänomen, dass ästhetischer Avantgardismus gerade im Reich des Kommerz zu finden ist. Der Verzicht auf eine thematische und intentionale Fundierung der Definition digitaler Kunst wird angesichts der zunehmenden Ästhetisierung des Netzes bei dessen gleichzeitiger Kommerzialisierung die Unterscheidung von Kunst und Nicht-Kunst zusätzlich erschweren. Dass die Unterscheidung zwischen Kunst und Kommerz selbst nur ein kommerzielles Ziel verfolgt - weil Künstler ihre 'Kunst' verkaufen wollen -, ist eine radikale Position, die im Hinblick auf die digitalen Medien durchaus an Plausibilität gewinnt. (Vgl. das Gespräch mit Espen Aarseth unter http://www.dichtung-digital.de/Interviews/Aarseth-16-Dez-99)
All diese Fragen sind kaum gestellt, geschweige denn bereits beantwortet. Eines ist indes klar: Mit den alten Maßstäben wird man dem neuen Phänomen nur bedingt gerecht. Die Wettbewerbe für Netzliteratur belegen mit beklagenswerter Ausdauer den Mangel an Kriterien, nach denen die Qualität des neuen Phänomens bewertet werden könnte. Die ästhetische Urteilskraft befindet sich noch weitgehend im vor-argumentativen Stadium und konnte auf dieser Ebene bisher durch kein Werk wirklich zu einem Ausruf der Begeisterung bewegt werden. Es ist freilich auch nicht damit getan, selbstgefällig das Misslingen der Netzliteratur auszurufen, wie es in den alten Medien oft geschieht, wobei die Urteile mitunter eher voneinander abgeschrieben sind als dass sie aus der Begegnung mit dem Gegenstand im Netz resultierten. Man muss die Geduld des Beobachters aufbringen, der sich Zeit nimmt, für die Lektüre und für sein Urteil. Und man hofft, dass dieser Beobachter dem Neuen ein Wohlwollen entgegenbringt, das über eine ausreichende Portion an Skepsis verfügt.