Die Grenzen einer Reise

Rudolf von Waldenfels' Debüt "Über die Grenze"

Von Claus-Michael SchlesingerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Claus-Michael Schlesinger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als ob es keinen Abschied gäbe, keinen Eintritt in den Zustand der Bewegung, beginnt die Erzählung "Über die Grenze" von Rudolf von Waldenfels mit der Passage. Der erste Grenzübertritt nach "Belutschistan" wird gleich im ersten Satz rückblickend abgehakt und damit der andere Raum, in dem die Reise statt finden wird, etabliert.

Die Route führt den Ich-Erzähler auf seinem Fahrrad in den Norden Pakistans, nach Tibet, Indien und Laos. Wichtiger als die geografische Bestimmung ist jedoch das Jenseits der Grenze und das Einsetzen der Bewegung durch eine jenseitige Landschaft, die Wüste. Sie wird beschrieben als gestaltlose Weite, ohne Horizont, ohne Berge, eine Nicht-Landschaft.

Die Landschaftsbeschreibungen, die in kurzen Abschnitten mit einfachen und poetischen Worten Naturlandschaften wie Wüste oder Dschungel entfalten, erinnern an großformatige Farbfotografien. Die Menschen neben der Straße oder in den Städten werden zumeist entweder als feindlich und gefährlich eingestuft, oder es findet eine erotische oder sexuelle Begegnung statt.

Die Reise ist auch eine innere Reise. Immer wieder wandert der Blick auf die eigenen Gefühle und die eigenen Handlungen. Die Wahrnehmung des Fremden führt dabei zu einer Ahnung von Gefahr oder zu körperlicher Erregung. Dabei bleiben die Fremden meist namenlose Teile des Panoramas, wie zum Beispiel in einer Beschreibung der erotisch aufgeladenen Spannung einer zusammengedrängten Menschenmasse auf dem Weg zum Basar, oder sie sind Gefährten eines erotischen Abenteuers. Nur die Begegnungen mit Europäern, Männern wie Frauen, in Hotels und seltener unterwegs, führt zu längeren Beziehungen.

Interessant ist die Spannung, die der Text durch die programmatische Mischung der beiden Gattungen, Reiseerzählung und Roman, - der Untertitel lautet "reiseroman" - erzielt. Die Route bleibt durchweg nachvollziehbar. Dennoch geschieht ein Verlust der Verortung bei der Beschreibung innerer Zustände, ausgelöst durch Drogen oder Krankheit. Immer wieder werden auf diese Weise Räume etabliert, in denen das Ich des Erzählers sich entgrenzt oder verliert und die gleichzeitig raumzeitlich deutlich begrenzt sind. Entwickelt wird dieser Gegensatz zwischen dem Versuch der Selbstfindung auf einer Reise und des Selbstverlusts in teils drastischen Allegorien.

Die geschliffene Sprache erzeugt dabei nicht selten einen Verfremdungseffekt, beispielsweise bei der Beschreibung von "Kot". Die Spannung gerinnt hier zwischen den sauberen Wörtern und den beschriebenen dreckigen Verhältnissen zu einer Art Zerrspiegel, der das Beschriebene und die Beschreibungsebene selbst sichtbar macht.

Leider erscheinen zwischendurch beständig Reduzierungen des und der Fremden auf klischeehafte Eigenschaften. In einer Szene erscheint eine aufregende Frau am Tisch des Erzählers, eine erste Berührung ist magisch, aber nach dem ungeschützten Verkehr und dem darauf folgenden Schreck ist die Frau nur noch thailändische Prostituierte mit fünfzigprozentiger Infektionsgefahr.

Darauf folgt die Flucht in die Natur und die Reisebewegung, als äußere und innere Flucht. Dort kann es dann passieren, dass, wenn zum Beispiel ein von der Sonne angestrahltes Minarett vor einer dunklen Wolkenwand ins Bild kommt, oder ein kleines Mädchen in schmutzigen Klamotten und mit großen Augen am Straßenrand spielt, die einst großformatige Landschaftsaufnahme auf Postkartengröße schrumpft.


Titelbild

Rudolf von Waldenfels: Über die Grenze. Ein Reiseroman.
Mitteldeutscher Verlag, Halle 2006.
160 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-10: 389812343X

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