Simon nimmt das Kreuz auf sich

Dževad Karahasans Roman "Der nächtliche Rat"

Von Daniel HenselerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Henseler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Foca im Osten Bosniens ist keine beliebig ausgewählte Stadt. 1942 wurden hier von Tschetniks auf einer Brücke Tausende Muslime massakriert. Darüber durfte man in jugoslawischer Zeit allerdings nicht sprechen. Es passte nicht ins Bild vom friedlichen Zusammenleben der Völker. 50 Jahre später scheint sich die Geschichte zu wiederholen: Erneut wird die Stadt an der Drina zum Schauplatz eines Massakers an Muslimen, das den Fluss rot färbt. Berüchtigt wird der Ort im Bosnienkrieg der 1990er Jahre aber auch, weil hier systematisch Frauen misshandelt wurden. Heute gehört Foca zur Republika Srpska, dem serbischen Teil Bosniens. Von der ursprünglichen kulturellen Vielfalt ist nichts übrig geblieben, die Stadt ist "ethnisch gereinigt". In Den Haag geht man davon aus, dass sich irgendwo hier im unwegsamen Grenzgebiet zu Montenegro die Kriegsverbrecher Radovan Karadžic und Ratko Mladic versteckt halten.

Als die Handlung von Dževad Karahasans neuem Roman "Der nächtliche Rat" einsetzt, steht das jüngste grausame Kapitel der Stadtgeschichte allerdings noch bevor. Simon Mihailovic, der seit 1968 als Arzt in Deutschland lebt und mit einer Deutschen verheiratet ist, kehrt zum ersten Mal nach langer Zeit in seine Heimatstadt Foca zurück. Es ist Ende August 1991, man feiert das orthodoxe Fest Mariä Himmelfahrt. Der Bosnienkrieg wird zwar erst im darauf folgenden Frühjahr ausbrechen, doch in der Stadt brodelt es schon jetzt. Es herrscht Angst. Viele stellen sich auf kommendes Ungemach ein, manche Hitzköpfe treiben die sich abzeichnende Katastrophe gezielt voran. Ihre Brandreden gipfeln im exaltierten Aufschrei der Dichterin Milijana: "Es lebe das Leid! Mit Leid werden wir die Welt erretten, mit Leid hat Christus sie errettet, und so werden wohl auch wir es tun. Es herrsche das Leid, selbst wenn ich sein erstes Opfer sein sollte." Gewiss ist dies auch als eine Anspielung auf die unrühmliche Rolle zu lesen, die viele Intellektuelle vor und während des Kriegs gespielt haben. Was solche Reden ausgelöst haben: Wir wissen es inzwischen nur zu gut. Doch es gibt in der Stadt auch einige wenige, die versuchen, mäßigend auf das sich rapid verschlechternde Klima einzuwirken.

Kurz nach Simon Mihailovics Ankunft werden vier Personen umgebracht: Simon hatte sie alle seit seiner Jugendzeit gekannt und stand mit jedem von ihnen in einer besonderen Beziehung. Schnell fällt der Verdacht auf den Rückkehrer; Simon muss mit ansehen, wie er die Kontrolle über das Geschehen allmählich verliert. Unheil verkündende Zeichen, seltsame Vorgänge im leer stehenden Elternhaus - Simon fühlt sich beobachtet und verfolgt -, lange "Gespräche" mit dem Polizeichef Landeka, dem einstigen Turnlehrer, setzen Simon zu. Er wird unter Meldepflicht gestellt. Mitunter erinnern seine regelmäßigen Zwangsbesuche auf dem Polizeiposten in ihrer sinnlosen Absurdität an Kafkas "Schloss".

Karahasan gelingt es eindrücklich, die beklemmende Atmosphäre einer Stadt heraufzubeschwören, die langsam, aber sicher in die Katastrophe abgleitet. Dabei malt er das Geschehen nicht einfach in Schwarz und Weiß. Selbst die Haltung der Nationalisten wird nicht immer völlig krude dargestellt: Man muss erschrocken anerkennen, dass auch ihre Argumente bisweilen einen Kern haben, dem man sich nicht ganz verschließen kann. Gerade diese Genauigkeit, das nicht Übertriebene in den Darstellungen lässt diese Schilderungen realistisch und glaubwürdig sowie jede zusätzliche Zuspitzung der Lage als durchaus folgerichtig erscheinen. Zugleich steigern sie aber das Entsetzen darüber, dass die spätere Katastrophe gerade dadurch allmählich herbeigeführt wird: Sie ist nicht ein vom Himmel gefallenes Unglück, sondern die logische Folge einzelner, mitunter zunächst noch harmlos anmutender Worte und Taten.

Karahasan wäre indes nicht er selbst, wenn er nicht auch immer wieder philosophische, politische und theologische Passagen in den Roman einschieben würde. So lässt er etwa Mihailovics besten Freund aus früheren Zeiten, Enver Pilar, über den Verrat des Judas sinnieren. Ebenso fließen gleichnishafte und märchenartige Geschichten in den Roman ein.

Simons Begegnung mit Enver wird zum entscheidenden Wendepunkt des Romans. Als Enver in Simons Elternhaus erscheint, ist er eigentlich bereits tot, was Simon nicht sofort versteht. Enver führt mit Simon tagelange philosophische Gespräche und geleitet ihn schließlich in den Barzakh, einen Zwischenraum zwischen dem Reich der Lebenden und dem der Toten. Hier versammeln sich die Seelen vieler Ermordeter, solange sie nicht endgültig erlöst werden. Ihre Erlösung kann jedoch nur erfolgen, indem ein reiner Mensch sie noch einmal auf dieselbe Art tötet, wie sie damals ermordet wurden. Simon, der Rückkehrer, der von außen nach Foca gekommen ist, nimmt schließlich das Kreuz auf sich, um die lange Kette der Gewalt zu unterbrechen.


Titelbild

Dzevad Karahasan: Der nächtliche Rat. Roman.
Übersetzt aus dem Bosnischen von Katharine Wolf-Grießhaber.
Insel Verlag, Frankfurt a. M. 2006.
332 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-10: 3458172912

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