Das revolutionäre Potential von Geschlecht und différance
Eine Einführung, die "Folgen zeitigen wird"
Von Rolf Löchel
Besprochene Bücher / Literaturhinweise"Um eine These" geht es Barbara Rendtorff in ihrem neuesten Buch "Geschlecht und différance", das sich als "Einführung" versteht. "Nur um eine, die der Text vorbereiten, darstellen, ausarbeiten, überprüfen will. Mehr nicht, aber auch nicht weniger, denn wenn sie Bestand hat, wird sie Folgen zeitigen, theoretische und politische." Das klingt vielleicht ein wenig vollmundig. Jedenfalls wird mehr versprochen, als eine Einführung gemeinhin leisten will.
Diese These wird zunächst nicht vorgestellt. Vielmehr führt die Autorin den Leser und die Leserin langsam an sie heran. Dabei gelingt es ihr, das "ursprünglich als Vorlesung konzipierte" Buch so zu strukturieren, daß Leser und Leserin sich stets im klaren darüber sind, an welcher Stelle der Argumentation sie sich gerade befinden. Kein spröder Text ist entstanden, sondern ein weithin flüssig zu lesendes und gelegentlich sogar mit Witz und Esprit geschriebenes Werk, das allerdings öfter die Schärfe des Begriffs vermissen läßt. So nehmen sich die wiederholten Relativierungen und Unbestimmtheiten von Rendtorffs Aussagen immer wieder störend aus, etwa wenn es heißt "daß die Dinge als reale von den Wörtern gewissermaßen erzeugt werden". "Gewissermaßen" und "irgendwie" sind in diesem Buch vermutlich zwei der häufigsten Wörter.
Der eigentlichen Darstellung und Näherung ihrer These stellt Barbara Rendtorff einen Abriß der Geschlechtertheorien von der Aufklärung bis zur Post-Butler-Diskussion voran, knapp gehalten, aber die relevanten Strömungen umfassend.
Von zwei Seiten nähert sich die Autorin ihrer These. Im ersten Teil stellt sie "grundlegende Überlegungen" vor, "wie Bedeutungen entstehen, wie wir Unterscheidungen wahrnehmen und bewerten und wie sich diese Denkgewohnheiten auf unser Wahrnehmen von Geschlecht und Geschlechterverhältnis auswirken." Im zweiten Teil "wird danach gefragt, wie Geschlecht gelebt wird". Hier hätte die Darstellung und Erörterung der psychischen, sozialen und somatischen Entwicklung des Säuglings zur eigenen Mutter- bzw. Vaterschaft des Erwachsenen allerdings gerne etwas straffer ausfallen dürfen. Zuviel wird hier gesagt und auch selbst für eine Einführung überflüssiges.
Der gendertheoretische Teil setzt ein mit einer Erörterung der eher philosophischen Fragen nach Wahrnehmung und Wissen. Auf der Höhe des erkenntistheoretischen Diskurses befindet sich die Soziologin und Erziehungswissenschaftlerin allerdings nicht. Hier ist Rendtorff nicht zu Hause, und ihre Gedankengänge, entwickelt jenseits des philosophischen Diskurses, wirken etwas krude, ja hausbacken. Ihre Terminologie ist unscharf, und Begriffe wie "Sehen", "Wahrnehmen" und "Erkennen" werden mal synonym, mal polysem verwandt.
Zwar geißelt sie in der kritischen Auseinandersetzung mit dem Projekt der Moderne nicht zu unrecht deren "innewohnende Vernichtungslogik", doch wird dann auch schon mal ein Pappkamerad aufgebaut, entliehen aus vergangenen Jahrhunderten, wenn sie die "Unmöglichkeit eines 'Einen', einer universalen Struktur, einer Wahrheit (einer Metaphysik)" betont und Versuche zu deren Konstruktion zurückweist. Nur schwerlich wird sich heute noch ein Vertreter monistischer Metaphysik und Ursprungsphilosophie oder ein Verfechter von Letzbegründungstheoremen finden lassen.
Überhaupt läßt sich immer wieder feststellen, daß Philosophie bei Rendtorff negativ besetzt ist, so etwa, wenn sie herausstreicht, "daß das Beharren auf différance als struktureller Offenheit des Diskurses keine philosophische Spielerei ist, sondern eine politische Intervention, eine Offensive gegen den Wunsch nach und die Behauptung von Verallgemeinerung und Positivierung, den Grundlagen der Macht." Wobei sie allerdings auch nicht gänzlich ohne Verallgemeinerung und Positivierung auskommt, die jeder Begriffsbildung eigen sind.
Sicheres Terrain betritt sie hingegen, wenn sie sich der Sprach- und Zeichentheorie Lacans und seinem Schema £ zuwendet. Anhand seiner weist sie die performative Erzeugung von Wirklichkeit durch die von Denkkollektiven geprägte Sprache nach.
Und vollends heimisch ist sie im Diskurs der Geschlechter- und Geschlechtstheorien. Hier gewinnt das Buch auch seine eigentliche Stärke, die es zur lohnenden Lektüre macht. Sehr überzeugend gelingt ihr die Darstellung des Gedankens, daß "der Inbegriff dieser charakteristischen 'Verstrickung im Getrenntsein'" der différance das Geschlecht ist. Das Geschlecht (Singular!), denn "vor allem ist Geschlecht mehr und anderes als ein 'Unterschied zwischen Zweien'", nämlich die Tatsache des Geschlechtlichseins. Hier liegt ein zentraler Gedanke Rendtorffs, der sie en passant auch zu der Behauptung führt, daß "dann zuletzt auch die Auffassung von Geschlecht als einer 'sozialen Konstruktion' zurückgewiesen werden" müsse.
Wesentlich für Rendtorffs Argumentation ist ihr bereits früher entwickelter Begriff der "symbolischen Kastration". Darunter versteht sie die Tatsache, nur ein Geschlecht sein zu können, niemals jedoch das je andere, die Kränkung, die darin besteht, daß die Möglichkeit, das andere zu sein von jeher und für immer verschlossen ist. In der Notwendigkeit und Möglichkeit der Annahme (im Sinne von entgegennehmen, nicht vermuten) der "symbolischen Kastration" nun liegt "das produktive, wirklich 'revolutionäre' Potential, das Geschlecht [..] innewohnt."
Die Tatsache des Geschlechtseins (das meint nicht die Frage, welchen Geschlechtes ein Mensch ist, sondern daß er eines ist) verlangt daher nach einer Strategie, die dem Subjekt "die Annahme der symbolischen Kastration [der Erkenntnis der Tatsache also, nicht das andere Geschlecht sein zu können] ermöglicht - ohne entweder zusammenzubrechen oder aber Zuflucht zur einzig angebotenen Geschlechterordnung zu nehmen."
Über Derrida hinausgehend verwendet Rendtorff den Ausdruck différance "als Bezeichnung für einen 'Zustand des Auseinanderstrebens' - sowohl auf der Ebene des Triebgeschehens, als auch auf der Ebene der Sprache und als Hinweis auf das gespaltene Subjekt, das Sprachwesen Mensch, das 'parlêtre'" und vertritt die Auffassung, "daß eben hier [...] das entscheidende Merkmal von Geschlecht zu finden ist, das dessen Verständnis ermöglicht", so daß "Geschlecht verstanden werden kann als der Ort, an dem différance sich verdichtet zeigt." Deshalb findet sich hier auch der Ort, an dem das Subjekt seine Gespaltenheit bewältigen kann und muß.
Um nun zur eingangs erwähnten These zu gelangen, schließt Rendtorff die so verstandene différance zusammen mit 'Sexuierung'. Sexuierung, das meint "die Schließung zu vermeiden, die das Leugnen und Verdecken von différance zu erzeugen versucht, die Schließung, die gewissermaßen ein Anhalten der endlosen Verweisungsbewegung zum Anderen und Undarstellbaren hin unternehmen will."
Die Relevanz der Sexuierung steht derjenigen der différance nicht nach, denn "wenn die Subjekte, das Wissen, die Gesellschaft und was auch immer sexuiert, d.h. 'geschlechtet' gedacht werden, also gedacht werden in ihrer Eigenschaft, Bezug zu haben zu Geschlecht als erstem Repräsentanten von différance, dann reißt der Spalt auf, der Bewegung zuläßt und Veränderung und der das Denken befreien kann aus der Falle, immerzu in Dienst zu genommen zu werden, um die Schließung glaubhaft zu machen."
Abschließend mutet Rendtorff ihrer These nicht mehr die gewichtigen theoretischen und politischen Folgen wie zu Beginn ihres Buches zu, sondern gibt sich bescheidener, indem sie nur noch der Hoffnung Ausdruck verleiht, "daß wir ein wenig weitergekommen sind hinsichtlich der Frage, die wir uns aufgegeben haben" und daß "wir eine neue, weiterführende Frage gewonnen" haben, was ja nun nicht gerade gering zu achten wäre. Die Frage nämlich: "Wie läßt sich différance ertragen und fruchtbar machen und wie läßt sich ein Zustand des Auseinanderstrebens leben, ohne die bekannten Ausweichbewegungen zu evozieren, die das Verhältnis von Frauen und Männern so unerfreulich gestalten und doch zu einer produktiven Veränderung bewegen?"
Was Rendtorff vorlegt, ist eine gelungene Einführung, aber auch mehr und zugleich anderes als das. Dies macht das Buch für Leser, die sich einen Einstieg in die gender-Diskussion erhoffen ebenso interessant, wie für Leserinnen, die sich im gender-Diskurs sicher bewegen. Die Autorin versteht es hinzuleiten von einer allgemeinen, in die Materie einführenden knappen Darstellung zu einer fundiert begründeten These, die weitgehend quer liegt zum mainstream der derzeitigen gender-Theorien. Ob sie allerdings wirklich Bestand haben wird, kann nur der offene Diskurs erweisen.
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