Die Kicker-Plantage

Alex Bellos über Brasiliens Fußball-Wirklichkeit

Von Stephan SonntagRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stephan Sonntag

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Es ist doch letztlich Fußball, was dieses Land zusammenhält". Diese Aussage stammt von einem Mann, Aranaldo Santos, der in Manaus, tief im amazonischen Regenwald, das "Peladao" organisiert: Ein Fußballturnier mit kombiniertem Schönheitswettbewerb. Da kann ein Team eine Niederlage auf dem Platz durch einen Sieg seiner "Königin" auf dem Laufsteg wettmachen. Die 1973 ins Leben gerufene Veranstaltung gilt mit 522 teilnehmenden Mannschaften (im Jahr 2000) als größtes Fußballturnier der Welt. Der Erfolg war vorprogrammiert: "Wir haben einfach die zwei größten Leidenschaften der Brasilianer kombiniert - Fußball und Frauen", äußert sich der Begründer des "Peladao" Messias Sampaio.

Dieses Turnier ist eine der zahllosen Blüten, die aus der brasilianischen Fußballbegeisterung treibt. Zwei Jahre lang reiste der britische Journalist Alex Bellos durch die Nation des Rekordweltmeisters, um "ein zeitgenössisches Portrait des größten Landes in Lateinamerika im Spiegel seiner Fußballleidenschaft" zu entwerfen. Er sprach dabei sowohl mit (Ex)-Fußballern, Trainern, Spielervermittlern, Fans, Verbandsfunktionären und Vereinspräsidenten, als auch mit Politikern, Wunderheilern, Priestern oder Models. Sein Buch "Futebol" ist daher auch weit mehr als ein Streifzug durch die brasilianische Fußballgeschichte. Es ist auch das Abbild einer jungen Demokratie, die im Taumel von Globalisierung, Korruption und sozialer Ungleichheit die eigene Identität sucht. Der Fußball dient dabei als gesellschaftsverbindendes Element, wird aber auch zur Repression der Massen instrumentalisiert. Nicht nur darin gleicht der Mythos Fußball im synkretistischen Brasilien einer Religionsbewegung.

"Religion, Karneval und Fußball bilden die heilige Trinität der brasilianischen Massenkultur. [...] Man hört häufig den Satz: Fußball ist in Brasilien eine Religion. Ich denke, dass das so nicht stimmt. Fußball ist nicht eine Alternative zum Glauben, sondern vielmehr eine Ausdrucksform brasilianischer Religiosität." Anders ausgedrückt: Der Fußball vereint Brasilianer aller religiösen Glaubensrichtungen. Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass vor einem wichtigen Spiel Opfergaben für die afrobrasilianischen Götter dargebracht werden, genauso wie die Einsegnung der Tore im Namen des Christengottes erfolgt.

Doch abseits des verklärten, unschuldigen Massenphänomens besitzt der Fußball eine handfeste Schattenseite. Der nationale Fußballverband CBF wird immer wieder von Korruptionsskandalen erschüttert, skrupellose Spielervermittler betreiben einen florierenden Talente-Sklavenhandel und fast alle Vereine sind ruinöse Unternehmen von diktatorischen Präsidenten. "Brasilien ist der weltgrößte Exporteur von Zucker, Kaffee und Fußballern. Ich fing an, das Land wie eine riesige Plantage zu betrachten, die hauptsächlich "futebol" produziert. Es ist eine sportliche Monokultur", schreibt Bellos. Und wie früher die Plantagenarbeiter verschachert wurden, werden heute Fußballer in alle Welt verkauft. Bellos zeigt einige bedrückende Beispiele auf.

Um die zentrale Stellung des Fußballs für die brasilianische Nation in ihren positiven wie negativen Tendenzen aber wirklich begreifen zu können, muss auch die Entstehungsgeschichte beleuchtet werden. Im Kapitel "Heldenfüße" erzählt Bellos, wie der Fußball im Jahre 1894 in Gestalt des englischen Uniabsolventen Charles Miller, der sein Schiff mit einem Fußball in jeder Hand verläßt, brasilianischen Boden betritt. Zunächst ein Zeitvertreib der weißen Oberschicht, wurde der Fußball mit der Zulassung von farbigen Spielern schnell der Nationalsport Nummer Eins. Selbst das "Waterloo der Tropen", das "Hiroshima Brasiliens", die Niederlage im WM-Endspiel 1950 im eigenen Land gegen Uruguay, verstärkte eher noch die Bedeutung des Fußballs als nationales Symbol.

"Von allen historischen Beispielen nationaler Krisen ist die Weltmeisterschaft 1950 das schönste und verklärteste. [...] es ist ein fabelhafter Mythos, der sich in der allgemeinen Phantasie festgesetzt hat und nicht aufhört zu wuchern", schreibt der Autor Paulo Perdigao. Bellos widmet diesem einen Spiel ein ganzes Kapitel ("Das fatale Finale"), vielleicht das Beste des Buches. Die "nationale Tragödie" als unvermeidlicher Schritt zur "Formung einer Nation", die kollektive Trauer wird zum nationalen Monument. "Es ist doch letztlich Fußball, was dieses Land zusammenhält".


Titelbild

Alex Bellos: Futebol. Fußball. Die brasilianische Kunst des Lebens.
Übersetzt aus dem Englischen von Norbert Hofmann.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2005.
398 Seiten, 9,95 EUR.
ISBN-10: 3596165806

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