Die liebende "Fliege am Leimband"

Erhart Kästners dramatischer Dienst für Gerhart Hauptmann

Von Rolf-Bernhard EssigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf-Bernhard Essig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Drama des Dienens, vielstimmig, spannend und dazu wohl inszeniert, verfolgt man im Band "Perseus-Auge. Hellblau". Dabei konzentriert sich die Sammlung von Briefen, Notizen und Artikeln auf die Zeit von 1936-1937, in der der 32-jährige Erhart Kästner beim 74-jährigen Gerhart Hauptmann in Diensten stand.

Intimstes und Kuriosestes ist zu erfahren über Hauptmanns Altersleben und Alterswerk, über seine so heikle wie peinliche Position als geduldeter Geistesfürst von nationalsozialistischen Gnaden; und man erfährt, welche Schafsgeduld, Frustrationstoleranz und liebende Hingabe es von Kästner erforderte, einem solchen Heros zu dienen: Ausbrüche von Hass, Überdruss und Ekel für diese Existenzform blieben nicht aus. Dass er sich "gründlich entpersönlicht" fühle, weil er nie ohne Ausrede für sich bleiben könne, gehört für Kästner ins "Kapitel Unmenschlichkeit. Man kommt sich halt doch immer, und auch wenn es schön ist, etwas wie die Fliege am Leimband vor."

Die Kästner-Expertin Hiller von Gaertringen, die das bemerkenswerte Material komponiert, sparsam kommentiert und durch exzellente Zwischentexte gegliedert hat, begnügt sich aber nicht mit Texten aus der Dienstzeit Kästners, sie bietet dazu die Exposition und das anrührende Ende einer asymmetrischen und gleichzeitig produktiven Verbindung.

Albert von Schirnding, der aus seiner Zeit als Sekretär von Ernst Jünger die Problematik kennt, nennt in seinem hellsichtigen Vorwort das Verhältnis Kästner-Hauptmann mit Recht exemplarisch.

Welch unerwarteten Weg ging Kästner - vom jugendlichen, schwärmerischen Lesen des gefeierten Hauptmann über die kuriose erste Begegnung, bei der ihm der "König der Weimarer Republik" 1927 auf den Fuß trat, bis zu ersten ehrfurchtsschweren Briefen acht Jahre später an den "Hochverehrten Herrn Doktor Hauptmann"!

Zu dieser Zeit war Kästner Dr. phil., Leiter der Handschriftenabteilung in der Staatsbibliothek Dresden, regelmäßig schrieb er für Zeitungen, der spätere schriftstellerische Erfolg kündigte sich leise an. Gleichwohl war er unzufrieden mit dem beamtenhaften Gleichmaß seiner Existenz, so dass er die einmalige Gelegenheit nach reiflicher Überlegung beim Schopf packte. Unausdenkbar waren ihm damals noch briefliche Anredeformen, wie sie 1941 vorkommen: "Geliebter Vater Gerhart" und "Lieber Sohn und Freund Doktor Kästner... Ihre Eltern".

Dazwischen liegen die zwei Jahre 1936/37 als quasi ständiger Hausgenosse und Sekretär, in denen er den "Fürstendienst" und "Domestikengeruch" verflucht. Er tut Werke, bei deren Entstehung er mithilft, als "kitschig" ab, manche Hausgenossen und Gäste widern ihn an. Dann wieder preist er sein Glück sowie Hauptmann und dessen Werke.

Sein Dienst ist, positiv formuliert, abwechslungsreich: Er hat das Diktat aufzunehmen, muss Notizen und alte Texte transkribieren, sich um die Korrespondenz und das Telefon kümmern, das gewaltige Privatarchiv in größere Ordnung bringen. Und er hat als Gesellschafter zu dienen. Kästner klagt in Briefen an Freunde, er habe keine Zeit mehr für sich: "Der Alte frißt richtig Menschen. Vielleicht muß es so sein."

Das Vergrößerungsglas Alltagsnähe lässt Kästner unerwartete Seiten des genialen Autors sehen, so wird regelmäßig, nicht selten übermäßig getrunken: "Dann ging es bis 12 Uhr, ich bin heute noch tot, aber der Alte ist wie wenn nichts gewesen wäre und aß eben 4 Klöse mit Sauerbraten." Für alles Mögliche ist im Haus Geld da, für reichlich Personal, für den Esel Zettel, die Hunde Balooh und Mowgli, aber Kästners Wunsch nach einer neuen "Erika" zum Tippen erfüllt man nicht. Provinzialität und Adelslust im Hause belustigen den Sekretär, fast noch mehr die mangelnde Gelassenheit Hauptmanns - beispielsweise bei Verwirrungen auf einer Bahnfahrt: "Er war dabei - mein Gott, 74 Jahre! auch kolossal unbeherrscht, und ich mußte daran denken, daß er Th Mann vorwirft, er habe den Ausdruck 'die große Konfusion' von ihm geklaut. Man kann sagen: da hat er sie aber aus erster und bester Quelle geklaut."

Kaum beendet Kästner seinen Dienst, entspannt und vertieft sich das Verhältnis. Weiterhin hilft der Jüngere dem Älteren vielfach und setzt sich öffentlich für ihn ein. Als Soldat dann schreibt Kästner aus Griechenland so beeindruckende wie rührende Briefe an Hauptmann. Das oft ersehnte Wiedersehen gibt es nicht. 1946 stirbt Hauptmann. Kästner hört davon im ägyptischen Kriegsgefangenenlager.

Urteile über den 1936 ausgebürgerten Thomas Mann gehören zu den besonders schillernden Stellen der Dokumentation, war doch der Schlesier, was ihm nicht nur Kästner hoch anrechnete, in Deutschland geblieben. Über Mann mokiert sich der Sekretär: "Denn Sie wissen ja, die wirklichen Menschen, die 'mänschlichen', um mit einem infamen Gegner des Deutschtums, gottlob, er ist ausgebürgert! zu sprechen - sind im Hause groteskerweise selten." Die exzellente Herausgeberin vermutet hier nur irgendeinen Bezug zu Thomas Mann. Es ist aber Clawdia Chauchat, von der es im "Zauberberg" heißt, sie spreche das Wort "mähnschlich" aus.

Das Buch dokumentiert weit mehr als nur die an Höhen und Tiefen reiche Geschichte einer Form der Liebe, deren berühmtester Vertreter Johann Peter Eckermann ist. Obwohl das Politische in den Texten, zumeist aus den Jahren 1935 bis 1945, selten explizit vorkommt, eröffnen sie tiefe Einblicke in den Alltag Gebildeter im "Dritten Reich": Kästner musste "natürlich arisch sein", um als Sekretär Hauptmanns arbeiten zu dürfen, seine Vorgängerin Elisabeth Jungmann durfte das als Jüdin "natürlich" nicht mehr. Kästner atmet außerhalb des Reiches freier und preist den "Anschluss" Österreichs. Im Krieg schreibt er an Hauptmann verächtlich über die "Faulheit der Serben und Bulgaren", die feigen Italiener und "zeternde Griechen": "aber was hier verboten und was erlaubt ist, bestimmten wir."

Gerade weil der Band Schattenseiten nicht verschweigt, sondern den Essayisten und Bibliophilen als Mensch in seinem Widerspruch vorführt, dazu als Briefschreiber von Gnaden, ist er ein ideales Gedenkwerk zu Kästners 100. Geburtstag.


Titelbild

Erhart Kästner / Gerhart Hauptmann: Perseus-Auge Hellblau. Briefe, Texte, Notizen.
Herausgegeben von Julia Hiller von Gaertringen.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2004.
432 Seiten, 48,00 EUR.
ISBN-10: 3895284262

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