Literarische Sünden

Ina Schaberts englische Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts aus der Sicht der Geschlechterforschung

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die von Hiltrud Gnüg und Renate Möhrmann herausgegebene "FrauenLiteraturGeschichte" ist längst zum Standardwerk avanciert. (Vgl. literaturkritik.de 4/1999) Zu recht. Mindestens ebenso großer Erfolg sollte Schaberts Englischer Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts aus der Sicht der Geschlechterforschung beschieden sein, geht dessen Konzeption doch einen entscheidenden Schritt über dasjenige der "FrauenLiteraturGeschichte" hinaus.

Wie zuvor in ihrem 1997 erschienen Buch zur Geschichte der englischen Literatur früherer Epochen erzählt Schabert nun die Geschichte der englischen Literatur des gerade vergangenen Jahrhunderts als "Geschichte eines Dialoges zwischen Männern und Frauen – zwischen Autoren und Autorinnen, Leserinnen und Lesern, Kritikern und Kritikerinnen". Damit erhebt sie nicht etwa den Anspruch, "eine neue verbindliche Literaturgeschichte" verfasst zu haben. Ein solches Vorhaben erklärt Schabert vielmehr ausdrücklich für verfehlt. Gebraucht werde statt dessen eine "Pluralität von Darstellungen, die jeweils anderen Erkenntnisinteressen dienen, andere Schwerpunkte setzen und sich für andere Auslassungen entscheiden". Zugleich betont sie, dass die lange gültige Vorstellung einer notwendigen Trennung von Literaturtheorie und Literaturgeschichte nach heutigem Wissenschaftsverständnis obsolet sei. Denn jeder Ansatz einer Literaturgeschichtsschreibung impliziere immer schon eine "vorgängige Theoriebildung".

Bei dem dialogischen Verhältnis zwischen Männern und Frauen, als das sich Literatur aus dem Blickwinkel der Geschlechterforschung erschließt, kann es sich um ein sich "gegenseitig ergänzende[s] Gespräch", um eine "streitbare Auseinandersetzung" oder auch um die "(relativ häufig[e]) […] Sonderform des ‚monologischen Dialogs′" handeln, "der das jeweils andere Geschlecht nur aus dem eigenen Wunsch- oder Angstbild zur Sprache kommen lässt".

Schabert gliedert ihre Geschichte der englischen Literatur des 20. Jahrhunderts in drei Teile: die Epoche der Klassischen Moderne, welche die ersten drei Jahrzehnte umfasst; die Jahre zwischen 1930 und 1970 sind durch Aufstieg und Niedergang der Engagierten Literatur gekennzeichnet; der dritte Abschnitt bis zur Jahrtausendwende wird von der Postmoderne getragen. Mit dieser Einteilung folgt sie gängiger Praxis. Ein Abriss der Geschlechtergeschichte ist den drei Abschnitten vorangestellt.

Zu Beginn des Jahrhunderts prägt die "Auseinandersetzung zwischen modernistischem Maskulinismus und weiblichem Durchsetzungswillen" nicht nur das Publikations- und Verlagswesen, sondern auch etliche der Publikationen selbst. Während die Lyrik der Epoche durch eine "krasse gender-Asymmetrie" gekennzeichnet ist und die "dichterischen Normen" Pounds, Eliots und Anderer "frauenausschließend" wirkten, erkennt Schabert in Virginia Woolfs literarischem und literaturtheoretischem Schaffen eine "proto-dekonstruktivistische" Konzeption der Geschlechterdifferenz, die "praktisch alle Ansätze der späteren Women′s und Gender Studies […] vorweggenommen" habe. Ein geradezu überschwänglich wirkendes Lob für die Feministin des Bloomsbury-Kreises, das allerdings dadurch relativiert wird, dass ähnliche ‚Proto-Ehren′ auch anderen AutorInnen zuteil werden. Laurence Sterne etwa sei "proto-postmodern" gewesen. Dennoch bleibt zutreffend, dass Woolfs Roman "Orlando" (1928) die Geschlechterbinarität mittels einer "gründliche[n] Vermischung" von Geschlechtsmerkmalen und sexuellen Präferenzen "in spektakulärer, bis heute modellhafter Weise" aufbricht.

In den 1930er Jahren entwickelte sich im Rahmen der Engagierten Literatur ein "Programm des dokumentarischen Schreibens". Schreibende Frauen bedienten sich "im Zeichen eines geschlechterübergreifenden Humanismus" nun desselben "politischen Diskurses" wie ihre männlichen Kollegen. Schrieb eine von ihnen doch einmal explizit aus weiblicher Perspektive, war damit "kaum mehr ein spezifisch feministisches Interesse verbunden". Die bis dahin nicht unübliche, von Autorinnen jedoch schon seit längerem abgelehnte Bezeichnung authoress wurde nun auch in Lexika nur noch als veraltet Form verzeichnet. Dass das Geschlecht der AutorIn darum noch lange nicht belanglos war, macht eine Bemerkung von Iris Murdoch deutlich: "Ich denke, im Allgemeinen möchte ich über Sachen schreiben, bei denen das Geschlecht nicht wichtig ist, und in diesem Fall sollte man besser männlich sein, weil, wie im Augenblick leider die Dinge stehen, der Mann den normalen Menschen repräsentiert, während eine Frau immer eine Frau ist."

Während des Zweiten Weltkriegs löste die "eindeutige Indienstnahme" der Literatur für politische Anliegen ein "erneutes Nachdenken" über das Verhältnis zwischen Literatur und Politik aus. Phyllis Benthley hat das Dilemma im Jahre 1941 während eines P.E.N.-Symposiums prägnant formuliert: "Indem wir politische Propaganda schreiben, versündigen wir uns an der Kunst, wenn wir es nicht tun, am Leben." Überwunden wurde die Engagierte Literatur schon während, publikumswirksamer aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg nicht zuletzt durch die ‚absurde′ Literatur eines Autors namens Samuel Beckett.

Nach dem vermeintlichen ‚Verschwinden der Autorin im männlichen Schreiben′ engagierter Literatur der 1930er Jahre schlug das Pendel in den 1970ern in die andere Richtung aus, war doch das "literarische Leben" dieses Jahrzehnts nicht nur in England von "[m]ännlicher Selbstbezogenheit" einerseits und andererseits von "feministische[m] Separatismus" gekennzeichnet. Letzterer wertete zwar die weibliche Seite der "vorgegebene Opposition männlich/weiblich" auf, tastete diese selbst aber nicht an.

Wie Schabert ausführt, wurde mit den Erkenntnissen der Postmoderne deutlich, "dass eine radikalere Strategie, nämlich die Zerstörung der Opposition angezeigt war". Hatten Frauen "[j]ahrhundertelang" als Frauen geschrieben – was letztlich auch auf die engagierten Literatinnen der 1930er Jahre zutrifft – und hatten sich männliche Autoren stets als Angehörige des "überlegene[n] Geschlecht[s]" und meist zudem als "Repräsentanten eines allgemeinen Menschseins" in die Literatur "eingebracht", so gilt diese "Regel" nun nicht mehr. "Autoren und Autorinnen experimentieren in ähnlicher Weise mit den Theoremen der Dekonstruktion und dekonstruieren Subjektivität und Geschlecht." Dass "jede zustimmende Übernahme feministischen Gedankenguts und feministischer Gestaltungsideen durch einen Mann von den Feministinnen sofort wieder als neue Phase in der langen Geschichte der männlichen Vereinnahmung des Weiblichen kritisiert werden" kann und dass schon die "pure Reartikulation" durch einen Mann die "Ideale des Neuen Feminismus" "pervertiert", ist darum entgegen der Auffassung Schaberts auch nicht "ein grundsätzliches Problem, das sich mit dem Feminismus für schreibende Männer stellt", sondern wurde nur von Verfechterinnen einer bestimmten, schon seit längerem überwundenen Form des 1970er-Jahre-Feminismus behauptet.

Der Poststrukturalismus kann Schabert zufolge die Probleme, denen sich England am Ende des 20. Jahrhunderts zu stellen hat, nicht mehr lösen. Wie sie prägnant formuliert, verliere die Wirklichkeit unter dem Druck des sozialen und politischen Unfriedens ihre Anführungszeichen. In diesem Zusammenhang komme "[d]ekonstruktivistische[n] Schreibweisen" gesellschafts- und ideologiekritische Bedeutung zu: "Sie bereiten den Boden für eine neues realitätsbezogenes gesellschaftspolitisches Engagement, indem sie die Konstruktionsqualität der traditionellen Englishness gründlich und manchmal auch auf ergötzliche Weise verdeutlichen."

Schabert führt die Lesenden sicher durch die wechselhaften Jahrzehnte der englischen Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts, wobei sich die von ihr präferierte Perspektive der Geschlechterforschung ein ums andere Mal als instruktiv erweist. Einige kleine Irrtümer ("Eros and Civilisation" wird fälschlicherweise Ludwig Marcuse zugeschrieben. Tatsächlich ist es von Herbert Marcuse) fallen da kaum ins Gewicht. Auch, dass sie J. R. R. Tolkins "The Lord of the Rings" (1954/55) zu positiv beurteilt, mag man hinnehmen. Gravierender als solche kleinen sachlichen Fehler oder fragwürdige Beurteilungen ist ihre unzutreffende Rekapitulation der deutschen Butler-Kontroverse. Nach Erscheinen ihres Buches "Das Unbehagen der Geschlechter" (1991) sei Butler "[v]on deutschen Feministinnen zur Ordnung gerufen" worden und habe ihre Theorie dem Ansinnen der Kritikerinnen "[e]ntsprechend […] revidiert". Bei dieser – man muss es leider sagen – abwegigen Darstellung handelt es sich um mehr als einen kleinen Schönheitsfehler, vor dem man die Augen verschießen könnte.

Damit ist aber auch schon der schwerwiegendste Einwand benannt, der sich gegen Schaberts Arbeit vorbringen lässt. Da er nicht den eigentlichen Gegenstand des Werks betrifft, und da es sich ansonsten um ein erhellenden Buchs handelt, mag man über diese Entgleisung zwar nicht hinwegsehen, nimmt sie aber doch in Kauf.

Schabert hat ihre Darstellung der englischen Literaturgeschichte aus der Geschlechterperspektive mit dem vorliegenden Band abgeschlossen. Ein entsprechendes Unternehmen für die deutschsprachige Literatur steht noch immer aus. Bleibt zu hoffen, dass diese schmerzliche Leerstelle bald gefüllt wird.

Titelbild

Ina Schabert: Englische Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts. Eine neue Darstellung aus der Sicht der Geschlechterforschung.
Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 2006.
497 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-10: 3520397013

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