Visionäre und Propheten

Zur Aktualität prognostischen Wissens

Von Andreas KorpásRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andreas Korpás

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Dezember 2005 erschien bei Königshausen & Neumann in Würzburg ein Aufsatzband unter dem Titel: "Mantik. Profile prognostischen Wissens in Wissenschaft und Kultur". Herausgeber ist der Bonner Philosoph und frühere Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Philosophie Wolfram Hogrebe. Der Band umfasst 21 Beiträge, die sich um drei Bereiche - Philosophie/Neurologie, Geschichte/Altphilologie und anglistische Literaturwissenschaft - gruppieren. Entsprechend heterogen sind auch die Zugänge zum Thema.

Neben Beiträgen zu "Mantik und Hermeneutik" (W. Hogrebe), "Neuplatonismus und Mantik" (Ch. Horn) und "Mantik in der italienischen Renaissance" (Th. S. Hoffmann), stehen Aufsätze zur alttestamentlichen Prophetie (F.-L. Hossfeld), Mantik in der griechischen und römischen Epik bzw. Lyrik (Th. A. Schmitz, O. Zwierlein), zu Prophetien im römischen Kaiserreich und frühen Mittelalter (D. Engels, M. Becher), sowie zu prognostischen Schriften des Paracelsus (U. Benzenhöfer) und des Humanismus des 16. Jahrhunderts (Marc Laureys). Diese thematische Auswahl wird durch Beiträge aus der Anglistik (Shakespearezeit, frühe Stuartzeit, Romantik) ergänzt.

Der vorliegende Band ist das Ergebnis einer Fachtagung, die am 5. und 6. Februar 2004 an der Universität Bonn stattfand. Er bietet in seiner Vielfalt einen interessanten Einblick in die Tradition des prognostischen Wissens. Mit verschiedenen Arbeiten wie "Metaphysik und Mantik" (1992), "Sehnsucht und Erkenntnis" (1994) oder "Ahnung und Erkenntnis" (1996) hat sich der Herausgeber bereits mit der Thematik des prognostischen Wissens intensiv auseinandergesetzt. Die Arbeit ist daher gut fundiert und lässt gegenüber wissenschaftlichen Ansprüchen keine Wünsche offen. Allerdings kann der Band durch seine Vielschichtigkeit, welche Mantik als allgemein menschliches Bedürfnis bzw. allgemein menschliche Handlungsweise erscheinen lässt, kaum etwas zu einer genuin philosophischen Theorie der Mantik beitragen. Sprache und Inhalt der Beiträge sprechen in erster Linie ein Fachpublikum an.

Mantik (gr. mantikê) bezeichnet die Fähigkeit, Vorhersagen über zukünftige Ereignisse zu treffen, die nicht schon an natürlichen, in einem physikalischen Kausalnexus stehenden, Zeichen abzuleiten sind. Sie bezeichnet damit jenes breite, und heute von der Esoterik usurpierte Feld, das wir als Wahrsagekunst oder Wahrsagerei kennen. Die Stoiker unterschieden zwischen natürlicher (enthusiastischer) und künstlicher (zeichendeutender) Mantik. Für Platon und Aristoteles hat die Mantik noch einen festen philosophischen, für Cicero sogar politischen Wert, der das römische Staatsgefüge zusammen hält. Die mantischen Verfahrensweisen und Techniken haben sich über die Jahrhunderte stark differenziert. Das "Concise Lexicon of the Occult" zählt nicht weniger als 93 unterschiedliche Methoden der Wahrsagekunst auf. Die meisten von ihnen sind heute vergessen. Techniken wie Opferschau, Auspizium (Voraussage aus dem Flug der Vögel) oder Traumdeutung haben heute als mantische Techniken nur noch historischen Wert.

Historisch betrachtet steht die Mantik in einem sehr engen Verhältnis zur Magie. Deshalb ist die Separierung von Mantik als genuiner philosophischer Disziplin nicht nachvollziehbar. Die Behauptung Hogrebes, dass es sich bei der Mantik um eine bis zum Jahr 1978, dem Jahr, in dem der Autor erstmals eine Vorlesung zum Thema hielt, "völlig ignorierte Interpretationslehre" handelte, ist schlichtweg falsch. Vielmehr wurde die Tradition unter anderem Namen geführt, die aber das, was als Mantik bezeichnet wird, mit beinhaltet hat.

Mantische Techniken, die Hogrebe als 'weiche' und 'informelle' Formen des Wissens bezeichnet, hatten ihren Platz in einer Lebenswelt, deren Unwägbarkeiten um ein Vielfaches größer waren, als sie es heute sind. Mantik in dieser Form des volkstümlichen Aberglaubens verweist auf latente Sorgen und Ängste. Damit wird deutlich, dass eine allein die Vernunft ansprechende Aufklärung an den Grundbedürfnissen und Ängsten und den daraus resultierenden Grundeinstellungen der Menschen sehr wenig ändern konnte. Mantik repräsentiert ein sehr altes Wissensgeflecht, das zum Leben und Überleben hilft. Nach Hogrebe sind die "'harten' Wissensformen zwar wissenschaftsgeeignet, aber nicht alltagsgeeignet", denn: "De facto orientieren wir uns im Alltag mit Hilfe von Interpretationsformen, die fragil, aber sehr schnell sind und sein müssen, damit wir lebenspraktisch durchkommen können."

Für den Hermeneutiker und Philosophen Hogrebe sind "Mantik und Magie auf ihre Weise als epistemische Praxen im Dienste der Lebensbewältigung anzusprechen", die "ursprünglich gerade nicht aus dem Rationalitätsprofil des homo sapiens herausfielen, sondern es, wie wir heute sagen würden, nur unzulässig 'überdehnten'". Die kulturelle Akzeptanz dieses Rationalitätsprofils hat sich aus verschiedenen Gründen zuungunsten von Magie und Mantik entwickelt, was nicht bedeutet, dass sie nicht weiterhin, meist im Verborgenen, betrieben werden. Man könnte es auch anders formulieren: Die Wissenschaft als Teil der menschlichen Rationalität hat sich von grundlegenden menschlichen Bedürfnissen entkoppelt, indem sie unter Verzicht einer wesentlichen Komponente der Weltwahrnehmung und Weltdeutung die Vernunft einseitig betonte.

Alles, was nicht in das vorgebliche Raster von Vernunft passte, wurde per se als unvernünftig diskreditiert. Hogrebe fordert daher eine "Theorie informeller Wissensformen in der Tradition von Leibniz" ein. Damit würde die Philosophie zugleich wieder zu ihren Anfängen zurückkehren. Denn schon in der Antike habe man "zwei Formen mantischer Deutungen" unterschieden. Der erste Typus wird als "technische" oder "induktive" Mantik bestimmt. Der zweite Typus sei mit "natürlicher" Mantik zu umschreiben. Diese "interpretiert unsere aufgewühlten Stimmungen, die dann, wenn sie sich in Traum, Rausch oder Ekstase völlig ungesteuert entladen, wiederum einen eigenen Interpreten benötigen." Diese Form der Mantik ist nicht verallgemeinerbar, sondern hat etwas mit den individuellen Fähigkeiten von Seherpersönlichkeiten oder Visionären zu tun. Anders hingegen lässt sich die Technik der "induktiven" Mantik verallgemeinern und tradieren.

Im überaus interessanten Beitrag Wolfram Hogrebes zu "Mantik und Hermeneutik" demonstriert der Autor und Herausgeber, dass eine zwischenmenschliche Verstehensleistung immer durch prognostische (mantische) Fähigkeiten unterstützt bzw. durch diese erst ermöglicht wird. In jeder kommunikativen Leistung steckt ein Anteil an Vorhersagewissen. Kommunikatives Handeln ist damit auch Verarbeitung von Kontext unter Einbeziehung prognostischer (mantischer) Wissensbestände. Hogrebe spricht daher von einem "ahnenden Anteil" unserer sprachlich-rationalen Weltbezüge, ohne den wir nur sehr schwer zurecht kommen würden. Auf Seiten des Rezipienten müssen wir immer mit einem "entgegenkommenden Verstehen" rechnen. Wir antizipieren jeweils, was uns mitgeteilt werden soll, wir "ahnen" die Gedanken des Anderen voraus. Das hat im hermeneutisch-interpretatorischen Verständnis allerdings nichts mit einer Art Telepathie oder "actio in distans" zu tun. Wir greifen vielmehr zurück auf erlernte Wissensbestände, anders ausgedrückt auf vorhandenes Weltwissen, welches bei Kindern und Fremdsprachenlernern zuallererst aktiviert werden muss. Wir bauen ein visionäres (ahnendes) "Du" auf, um mit einem wirklichen Gegenüber in sprachlichen Kontakt treten zu können. Hogrebe verwendet dafür den Begriff des "Animismus" und lehnt sich damit an G. E. Stahls Begriffsbildung aus dem Jahr 1707 an. "Man kann der Geschichte der Theorie des Animismus bis zu Piaget entnehmen, daß wir ohne ein entgegenkommendes Verstehen das dunkle Du nicht aufgebaut hätten, und ich möchte hier die Vermutung anschließen, daß ohne einen Minimalanimismus unser Gegenstandsbezug, d. h. unsere Referenzialität oder Intentionalität kollabieren würde", so Hogrebe.

Die Entwicklung von Technik und Kultur wird in diesem Zusammenhang gelesen als eine Verlust- und Restitutionsgeschichte - wir haben uns Prothesen entworfen und gebaut für einen Sinn, der durch rationale Überlagerung eingedämmt, eingetrübt wurde. Hogrebes begründete Annahme ist, dass aus dem ursprünglichen "Personalbezug" ein "Gegenstandsbezug" geworden sei und deshalb das namenlose, geahnte, mantisch figurierte "dunkle Du begann zu schweigen."

Die historisch-hermeneutische Einstimmung dessen, was mantisches Wissen einstmals beinhaltete und heute noch im Verstehensprozess leistet, wird in einem zweiten Beitrag von Joachim Brommand unter dem Titel "Wissen und seine Vorstufen" weiter ausgeführt. Dabei geht es um den Zusammenhang von Wissen und (präsumptivem) "Glauben" oder "Ahnen" von Wissensinhalten. Wissen stelle sich demnach dar, als ein ahnendes Herantasten auf mehreren Ebenen. "Die Vorstufen von Wissen bilden somit Zwischenstufen einer Skala, an deren einem Ende das richtige Raten, am anderen das Wissen einzuordnen ist." (J. Brommand). Wissen ist das Ergebnis eines Prozesses, keine instantane Einsicht. "Wissen", so zitiert Hogrebe in seinem Beitrag den Hirnforscher Antonio R. Damasio, "beginnt als ein Gefühl".

Eine interessante naturwissenschaftliche Perspektive bietet der Beitrag Kai Vogeleys über "Neuronale Korrelate mantischer Deutungsleistungen." Aus den Experimenten der aktuellen Hirnforschung ergibt sich offenbar eine Möglichkeit, Bewusstseinszustände, die als mantische bezeichnet werden können, aus partiellen Hirnruhezuständen abzuleiten. Voraussetzung dafür ist ein ausgesprochener Personalbezug, der aus der Absenz kognitiver Aufgaben resultiert. In diesen Phasen des "Auf-sich-gestellt-seins" ist eine Deaktivierung bestimmter Gehirnregionen beobachtbar, die für das Lösen von Aufgaben nicht notwendig sind. In diesen Regionen wird dann eine "reine assoziative" Gedankentätigkeit ausgelöst. Daraus resultiert nach Vogeley die Annahme, "daß emotionale Spuren früherer Erlebnisse unsere aktuellen Entscheidungen wesentlich mitbeeinflussen können." Wir sind also nicht frei in unseren Entscheidungen und es stellt sich aus dieser Erkenntnis heraus die berechtigte Frage, welchen Wert wir vor einem solchen Befund unserem Selbst, oder psychologisch gesprochen, unserem "Ich" beimessen können und wollen.

Einen philosophiehistorischen Ansatz verfolgt Christoph Horn in seinem Beitrag. Der Autor verortet eine Vielzahl mantischer Aktivitäten in den Neuplatonismus. Dabei seien die mantischen Strategien des Neuplatonismus in zwei Richtungen verfolgt worden: " [1] das Erkennen im Sinn des Erfassens eines im strikten Sinn unerfassbaren ersten Prinzips (Negative Theologie oder Henologie) und [2] das Erkennen im Sinn eines intuitiven Begreifens intelligibler Entitäten oder intelligibler Sachverhalte (intellektuelle Anschauung)." Kultisch-religiöse Verfahren wie Traumdeutung, bestimmte Verfahren der Magie und Theurgie, Orakelwesen sowie eine "interessante Praxis der symbolisch-allegorischen Mythen- und Literaturinterpretation" seien unzweifelhaft Bestandteile der neuplatonischen Philosophie, die damit ihre mantische Substanz aufzeigen. Dabei gewinne das gefühlsmäßige Ahnen gerade dadurch Bedeutung, dass das Eine im Sinne einer negativen Theologie sprachlich nicht ausgesagt werden könne. Nach Horn lässt sich diese Ineffabilitätsthese sehr gut im Zusammenhang mit der synchronen skeptischen Herausforderung in Verbindung bringen.

Hochzeiten mantischer Verfahren sind in der europäischen Geschichte in der römischen Antike zu finden, wovon das Prodigienwesen und die Lyrik des Vergil (Bucolica, Aeneis) künden (O. Zwierlein). Außerdem lässt sich "in der griechischen Epik von Homer bis Quintus von Smyrna", Thomas A. Schmitz zufolge, sehr deutlich zeigen, wie Prophetie als "narratives Mittel" eingesetzt wird, wodurch "die Verbindung von göttlicher und menschlicher Handlungsebene" erst herausgearbeitet wird und den homerischen Texten "ihre Tiefendimension verleiht". Vielleicht noch deutlicher gilt das für die alttestamentliche Prophetie, denn die Bedeutung dessen, was geschieht, wird im religiösen Sinne erst dadurch verbürgt, dass es von begnadeten Sehern divinatorisch vorausgesehen wurde. Damit wird zugleich sicher gestellt, dass es sich um gottgewollte Ereignisse handelt. Immer wieder wurde Prophetie daher auch im machtpolitischen Sinne eingesetzt, sei es im römischen Reich, in dem Vorhersagen ein fester religiöser und politischer Bestandteil des Alltags waren und demzufolge wichtige Entscheidungen, z. B. über Krieg und Frieden, bzw. den Ausgang kriegerischer Auseinandersetzungen, beeinflussen sollten (David Engels), oder aber in der Merowinger- und frühen Karolingerzeit (Matthias Becher), in der die Deutung bestimmter Zeichen den Tod eines Herrschers oder das nahende Weltende ankündigten.

Eine grundlegende Bedeutung für den Status der individuellen Kompetenz in medizinischen Fragen suchte sich der Arzt und Alchemist Theophrastus Bombast von Hohenheim (Paracelsus) durch eine ganze Reihe von Vorhersagen zu erwerben. Er gab, so Udo Benzenhöfer, sowohl Schriften zur Astrologie, wie auch Schriften über Naturerscheinungen und Naturereignisse mit prognostischem Charakter heraus. Sie sind, nach Einschätzung Benzenhöfers, "wenig originell" und "offen genug, um zukünftige Realität 'umfassen' zu können." Schon Zeitgenossen wie Phillipp Melanchthon waren der Meinung, dass es sich um "völlig alberne Nichtigkeiten" handelt. Allerdings zeigt auch die ernsthafte Auseinandersetzung mit Paracelsischen Prognostikationen, dass es in der frühen Neuzeit eine grundlegende Bereitschaft gab, die Möglichkeit prognostischen Wissens anzuerkennen und Mantik durchaus einen festen Platz im Leben der Menschen besaß. So sind auch die sehr zahlreichen Prophetien und mantischen Vorausdeutungen "im Drama der Shakespearezeit" (Uwe Baumann) nicht als Sonderfall künstlerischer Freiheit zu werten, sondern Spiegel eines allgemein verbreiteten Glaubens an die Möglichkeit, zukünftige Dinge vorauszuahnen. "Wie die Geistererscheinungen überschreiten auch die Vorzeichen die Grenzen des Üblichen und des Natürlichen", so Baumann. Es lässt sich festhalten, dass Mantik so lange einen festen Platz in der Weltdeutung der Menschen besaß, wie die Existenz Gottes nicht angezweifelt wurde, Religion und Aberglaube (!) natürlicher Bestandteil des Alltags waren und es über die Gültigkeit der christlich verbürgten kosmischen Weltzeit keinen Zweifel gab. Gott hatte die Welt geschaffen und mit ihrem Anfang zugleich ihr Ende. Jedes einzelne Ereignis musste demzufolge schon im Plan Gottes mit inbegriffen sein. Nur aus diesem Verständnis heraus wird Mantik zur Selbstverständlichkeit. Die Aktualität des Bedürfnisses nach mantischem Wissen zeigt darüber hinaus überdeutlich, dass eine spirituell entleerte Welt offensichtlich als unnatürlich empfunden wird. Sie schafft sich im Moment ihres Todesspruches neue Räume und erklimmt erneut das Unbewusste der Menschen.

Der Band "Mantik. Profile prognostischen Wissens in Wissenschaft und Kultur" gibt einen reichhaltigen und vielschichtigen Einblick in die Geschichte des ahnenden Wissens, ohne allerdings Ausblicke zur gegenwärtigen Situation dieser Tradition zu liefern. Dennoch bietet er viele Anreize zu einer intensiveren Auseinandersetzung mit der Thematik, die sowohl Philosophen, als auch Theologen, Literatur- und Naturwissenschaftler ansprechen dürfte. Demjenigen, der sich vom philosophischen "mainstream" lösen möchte, und sich auch für einen bislang eher unterbelichteten Randbereich interessiert, sei dieser Band nachdrücklich empfohlen.


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Wolfgang Hogrebe (Hg.): Mantik. Profile prognostischen Wissens in Wissenschaft und Kultur.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2005.
300 Seiten, 34,80 EUR.
ISBN-10: 3826032624

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