Attraktive Krankheiten

Literatur und Medizin in einem von Bettina von Jagow und Florian Steger herausgegebenen Lexikon

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass Literatur der Gesundheit abträglich sein kann, ist seit langem bekannt. Bereits auf Sebastian Brants "Narrenschiff" (1494) tummelt sich die Figur des Büchernarren, ein früher Fall von "Bibliomanie". Andererseits wird die Dichtkunst schon seit jeher zur Diätetik gezählt. Lustspiele können Syphilis und Rheumatismus heilen, Trauerspiele dagegen Darmkrämpfe auslösen, weiß etwa Jean Pauls "Dr. Katzenbergers Badereise".

Einen umfassenden und systematischen Überblick über die zahlreichen Schnittstellen von literarischem und medizinischem Diskurs in den europäischen Literaturen von der Antike bis zur Gegenwart gibt ein von Bettina von Jagow und Florian Steger herausgegebenes Lexikon, eine wahre Fundgrube. Aus einer medizin- sowie literaturhistorischen Doppelperspektive informiert es darüber, in welchen literarischen Werken Krankheiten wie Bulimie oder Krebs, emotionale Ausnahmezustände wie Liebe oder Melancholie oder Phänomene wie Schwindel oder Kannibalismus dargestellt werden.

Die kenntnisreichen Beiträge zeigen, wie Literatur seit jeher tradierte Vorstellungen von Gesundheit in Frage stellt, und erklären die besondere literarische Attraktivität bestimmter Krankheiten. Die Schwindsucht oder heute Aids beispielsweise sind erotisch konnotiert, führen aber nicht zu einem plötzlichen Tod, anders als etwa die Cholera, an der Thomas Mann seinen Gustav von Aschenbach sterben lässt. Die jahrelange Agonie des Infizierten ermöglicht die Schilderung von Entwicklungen und existenziellen Krisen in epischer Breite, kurz Werke wie den "Zauberberg". Doch nicht nur Krankheiten, sondern auch medizinische Praktiken wie Operation oder Obduktion, medizinische Lehren wie Eugenik oder Psychoanalyse oder Institutionen wie Hospiz oder Sanatorium werden berücksichtigt. Ebenso die einschlägigen Protagonisten: vom Leib- bis zum Landarzt, vom Apotheker bis zum Zahnarzt, von der Hebamme bis zur Krankenschwester.

Manches vermisst man dennoch. Den Kulturdiagnosen Ian Hackings und Elaine Showalters hätte man ebenso Berücksichtigung gewünscht wie dem "mad scientist" oder der "Multiplen Persönlichkeitsstörung" eigene Einträge. Und wenn "Abtreibung", warum dann nicht auch die "Kindstötung", deren literarische Tradition von Euripides' "Medea" bis Kumpfmüllers "Durst" reicht?


Titelbild

Bettina von Jagow / Florian Steger (Hg.): Literatur und Medizin. Ein Lexikon.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2005.
984 Seiten, 59,00 EUR.
ISBN-10: 3525210183

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