Abfall - Null - Am Pool

Neue Schreibformen im Internet

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Oktober 1967 ist ihre Schreibmaschine verrückt geworden. Beim Rücklauf des Kugelkopfs trat ein Defekt auf und produzierte 'verstreute Buchstaben'. Der Wechsel des Kugelkopfs brachte die Autorin nicht weiter, die elektrische IBM bedurfte auch in den Folgejahren besonderer Handhabung.

Von diesen handwerklichen Problemen des Schreibens wissen die Leser von Ingeborg Bachmanns Roman "Malina" erst, seitdem es einen "Textkritischen Kommentar" zu ihrem Roman gibt, der auch die unterschiedlichen Schrifttypen, die verschiedenen verwendeten Papiersorten und die diversen Entwurfsstadien des Manuskriptes begutachtet. Die Erstrezipienten hatten einen homogenen Text vor sich, in einer unscheinbaren Antiqua gesetzt, die nichts mehr von den Nöten der Textgenese erkennen ließ.

Heutige Schreibformen mit den modernen technischen Mitteln und den heutigen Distributionsformen geben da womöglich tieferen Einblick. Das Internet eröffnet uns potentiell die Möglichkeit, die Autoren bei der Entstehung ihres Werkes zu beobachten. Der Verlag mit seinen traditionellen Institutionen (Lektorat, Herstellung, Setzerei, Buchbinderei, Werbung, Vertrieb) wird abgelöst vom Provider, dessen Aufgabe sich im Wesentlichen darin erschöpft, dem Benutzer einen Zugang zum Netz zu gewähren. Der Autor macht jetzt alles allein, er schreibt und redigiert seinen Text, er bastelt sich eine Homepage, auf der er seinen Text publiziert, er betreibt per E-mail und auf anderen Informationskanälen Werbung für sein Produkt. "Autonomie" ist ein wichtiges Stichwort für diese neue Schreibkultur: der Autor selbst zeichnet für alles verantwortlich, was er publiziert, es gibt keinen persönlich haftenden Verleger mehr, der die diversen Risiken, auch geschäftlicher Natur, zu tragen hat.

Abfall für alle

Ein Pionier dieser neuen Publikationsform ist Rainald Goetz. Der Autor hat von Februar 1998 bis bis zum Januar 1999 einen Roman im Internet publiziert, dessen Entstehung für die Gegenwartsliteratur ziemlich einmalig sein dürfte. Die Vorgabe hieß: "Diese Seite erneuert sich jeden Tag". Tag für Tag publizierte Goetz unter der Internet-Adresse "rainaldgoetz.de" seine 'novel in progress'. "Abfall für alle" hieß und heißt das Projekt, das sich wie ein Tagebuch liest, dessen Eintragungen praktisch tagesaktuell vom User mitvollzogen werden konnten. Später wurde "Abfall für alle" aus dem Netz genommen, denn der "Roman eines Jahres" ist inzwischen als Buch erschienen.

Das Frappierende und Überraschende des Projekts ist, dass der Leser Einblick bekommt in die Entstehungsgeschichte des Romans und in die Probleme, die damit verbunden waren: "Hier noch mal kurz eine geraffte Zusammenfassung der eben mit Herrn Brock für die Abfall Seite besprochenen neuen Details. / Also, man wählt sich ein. Es erscheint die Seite des letzten Eintrags. Dabei lädt der Computer alle Tage der laufenden Woche. Unten, am Ende der Seite, erscheinen diese Tage mit den ausgeschriebenen Namen der Wochentage. Jeder dieser Tage hat eine interne Ordnungsziffer [...]. / Klickt man auf das Zeichen ALT erscheint der Tag vor dem, den man gerade sieht. Klickt man von MONTAG aus auf ALT wird die ganze Woche davor geladen. Und man landet auf dem Sonntag vor dem Montag. Umgekehrt kann man sich mit NEU wieder nach vorne, Richtung Gegenwart bewegen."

Quasi performativ wird der User in die Funktionsweise des Romans eingeführt. Zugleich wird er - durch die Wahrnehmung des Autors, für den das Medium Internet ebenfalls neu ist - mit den besonderen Bedingungen konfrontiert, die diese spezielle Form der öffentlichen Schreiber-Existenz mit sich bringt. So liegt zwischen Produktion und Rezeption eines Textes keine lange Zeitspanne mehr, sondern der Leser ist potenziell auf der Höhe der Zeit des Autors. Wichtig sind Orientierungsmarken, die es dem Produzenten wie dem Rezipienten erlauben, sich im Datenwust des Internets oder auch nur des in Frage stehenden Projektes zurechtzufinden. Neben der Adresse hat sich der gute alte Kalender als wertvolle Orientierungshilfe erwiesen: "Fällt mir ein, wie ich den Tag schreibe, daß mir das bei Rühmkorfs Tagebuch immer oft so abgegangen ist: welchen TAG haben wir denn heute, welchen Wochentag? [...] Der Wochentag bestimmt doch auf eine Art ganz extrem das Grundklima der Zeitordnung, in der man sich irgendwie so eingeordnet, der man sich zugehörig fühlt. Ich bin Dienstag heute."

Der simple Zeitbaum des Internet-Romans "Abfall für alle" war für den Leser/User einfach zu bedienen - für den Autor und seinen Programmierer steckte er voller Tücken und Unwägbarkeiten. Häufig ist deshalb in diesen Aufzeichnungen, wann immer Probleme mit der Fütterung des Daten-Highways auftreten, der ironisch-zornige Stoßseufzer zu lesen: "STEINZEIT DER ELEKTRONISCHEN WELT." Probleme traten zum Beispiel auf, als Goetz seine Homepage von Tokio aus füttern mußte. Plötzlich war sein Text mittig gesetzt und erschien im Fettdruck; am nächsten Tag war die serifenlose Arial einer gewöhnlichen Times Roman gewichen. Am dritten Tag erschien eine neue Schriftgröße, und erst am 21. April war der gewohnte Auftritt wieder möglich. Goetz kämpfte tapfer mit dem rätselhaften Moloch Internet und seinen Zugangsmodalitäten. Und "Abfall für alle", das wurde relativ rasch klar, setzte einen markanten Stein auf dem Weg zu einem umfassenden Projekt: der totalen Medialisierung des Lebens.

Null

Am ersten Januar 1999 startete ein Projekt des Kölner DuMont Verlages unter der Adresse www.dumontverlag.de/null, "eine langsam über das letzte Jahr des Jahrtausends hinwegwachsende Anthologie junger deutscher Literatur". Herausgeber Thomas Hettche konnte illustre Namen wie Helmut Krausser, Judith Kuckart, Dagmar Leupold, Thomas Meinecke und Burkhard Spinnen aufbieten.

Neu an "Null" war das interaktive Moment: Die eingeladenen Autoren konnten aufeinander reagieren, miteinander diskutieren, sie stellten ihre Texte zur Debatte und kommentierten sie - und das Ganze öffentlich. Eine etwas unübersichtliche Sternkarte, die beständig weiterwuchs, sich aber auf einem Bildschirm / auf einen Blick gar nicht darstellen ließ, wies thematische Cluster oder "Sternbilder" auf, die sich aus Namen und Datierungen der Beiträge[r] gebildet hatten.

Der kommunikative Aspekt zwischen den Teilnehmern ist die wichtigste Neuerung dieses Projektes. Während Goetz auf jegliche Interaktion verzichtete und auch E-mailing nicht zuließ, treten die Beiträger von "Null" in einen potentiellen Dialog ein. Nicht alle freilich haben sich gleichermaßen auf diesen Dialog eingestellt, manche Autoren haben sich weitgehend darauf beschränkt, hier ihre Klöppelarbeiten vorzustellen, doch zwischen anderen hat sich eine rege Kommunikation entwickelt. Und das ist eigentlich auch der Sinn von "Null", dass man sich total auf dieses Projekt einläßt, im Zusammenspiel mit den anderen Autoren dieses Projekt weiterentwickelt und vorantreibt, dass man erkundet, welche Texte im Rahmen eines solchen Projekts möglich sind und welche nicht, dass man durch stetige Überprüfung und Neuorientierung des Status quo aus Fehlern lernt und medienadäquat zu schreiben beginnt.

Der Leser kann seinerseits entscheiden, wessen Texte er lesen möchte, welche Autoren er mitverfolgt, welche Debatten für ihn interessant sind. Interessant wurde es immer dort, wo Autoren den Mut hatten, die selige Eintracht des Miteinander durch Text- und Manöverkritik einer Belastungsprobe zu unterziehen. Helmut Krausser und Thomas Meinecke etwa haben frühzeitig den allzu wohlfeilen Konsens zwischen den Autoren aufgekündigt und die mangelnde Qualität der Beiträge thematisiert. Der Zutritt zu diesem Autorenkreis ist streng reguliert, die Qualität des Projektes steht und fällt mit der Auswahl der Beiträger. Ob Thomas Hettche hier eine glückliche Hand hatte, darüber gehen die Meinungen auseinander. Diese Frage soll gestellt werden, sobald DuMonts Anthologie "Null" in Buchform erschienen ist.

Dass der Schreibtisch des Autors dadurch zum "öffentlichen Ort" (Thomas Hettche) wurde, ist freilich eine schöne Illusion. Dazu müsste man wohl noch einen Schritt weitergehen und eine Webcam installieren, die den Autor live präsentiert und nicht nur das Endprodukt seiner Arbeit zeigt. Hier ist selbst das Internet konventionell, auch hier ist mit den Begriffen "Authentizität" oder "Spontaneität" (gegenüber traditionellen Publikationsformen) nichts gewonnen. Auch Internet-Texte suggerieren bloß, dass sie schneller, spontaner, authentischer, wirklichkeitsnäher seien als andere Texte. In den allermeisten Fällen ist nicht erkennbar, ob die Beteiligten in die Schublade gegriffen haben, um altes Zeug unter die Leute zu bringen, oder ob sie unter dem Aktualitätsdruck des Mediums produziert haben.

Am Pool

Wiederum einen Schritt weiter geht www.ampool.de. Auch hier stehen interaktive Kommunikationsformen im Mittelpunkt. Die meisten Texte sind in Briefform verfaßt. Andere Beiträger, darunter Rainald Goetz, liefern poetische Beiträge, Gedichte, Kurztexte usw., die weitgehend nicht auf das simultan entstehende Umfeld eingehen. Neu an "ampool" ist "loop", das heißt die Möglichkeit für jeden User, sich an einem "Parallel-Forum" mit eigenen Beiträgen zu beteiligen. Der "Pool" steht nur den eingeladenen Autoren offen, "loop" hingegen ist eine Spielwiese für Jedermann. Zu den "Pool"-Autoren gehören Rainald Goetz, Christian Kracht, Sven Lager, Elke Naters, Andreas Neumeister, Georg M. Oswald, Moritz von Uslar und andere. Auch Alias-Namen wie "The Mad Dog" und "Euer boy aus den Tropen" sind vertreten. Sie schreiben aus Bangkok, aus dem Urlaub, aus den Tropen, aus der "bayernkabine", bei manchen Autoren kann man ihren Weg verfolgen von New York nach Heidelberg, von Ho-Chi-Minh-City nach Bangkok und auf die Insel Sylt, von Peine nach Pattensen und Paris. Das Projekt wirkt dadurch ungeheuer eitel ("Telefon mit XXXXX von der ZEIT, eben vor dem Mittagessen"), zumal die persönlichen Lebensumstände der Autoren häufig nicht so spektakulär sind, als dass man sich unbedingt dafür interessieren müsste. Insgesamt aber ist spannend und aufschlussreich zu erfahren, wie Autoren heute leben.

Hypertextualität spielt in den genannten Foren kaum eine Rolle. Verändert das Internet dennoch das Schreiben und Sprechen? Rainald Goetz meint eindeutig ja. Ein Millionenheer von Schreiberlingen sei überall auf der Welt damit befasst, Schreibformen zu entwickeln, die näher an die Mündlichkeit der Sprache heranführen. Womöglich werden die Autoren auch experimentierfreudiger. Manche dringen mit Entdeckerlust in einen unbekannten Raum vor. Auf jeden Fall konveniert das Publizieren im Internet mit jenem Relevanzgewinn, den die jüngste deutsche Erzählergeneration in den letzten fünf bis sechs Jahren für sich verbuchen konnte. Traditioneller Buchmarkt und Internet scheinen sich hier gegenseitig zu stützen. Und das wäre ja nur zu begrüßen.

Titelbild

Rainald Goetz: Abfall für alle. Roman eines Jahres.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1999.
800 Seiten, 25,60 EUR.
ISBN-10: 3518410946

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