Unstetes Schleichen der Konterrevolution

Patrik Ouredník kehrt mit seinen Erinnerungen aus dem französischen Exil nach Böhmen zurück

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Progymnasma 1965-89" lautet der Untertitel dieses Erinnerungskatalogs, für dessen experimentellen Charakter der Autor nach eigenen Angaben bei dem Amerikaner Joe Brainard und dem Franzosen Georges Perec Orientierung und Anleihe genommen hatte. In der Tat kann man gegenüber einer derartigen Schreibkonzeption seine Zweifel hegen und schnell können Argumente gefunden werden, die grundsätzliche Schwachstellen begründen.

Der 1957 geborene Patrik Ouredník stellt in 13 Zyklen Erinnerungen an seine Kindheit und Jugendzeit in der sozialistischen Tschechoslowakei zusammen. Die Erinnerung ist das konstituierende und tragende Moment dieses Büchleins, in welchem die einsetzende Enttäuschung nach der gewaltsamen Niederschlagung des "Prager Frühlings" im August 1968 als auch die gesellschaftliche Lähmung in der anschließenden Phase der politischen "Normalisierung" in den 70er und 80er Jahren zum Leben erweckt werden. Die chronologische Zeitachse zieht sich wie ein roter Faden durch das Gewebe verschiedenster Bilder, Zitate, Eindrücke, politischer wie privater Begebenheiten, Witze und Flüche. Das weckt beim Leser die Neugier und setzt zugleich einen eigenen Erinnerungsstrom in Gang. Manches kommt bekannt vor, vieles war längst vergessen und Neuigkeiten aus jener Zeit lässt man sich gerne mitteilen.

Die Distanz der Erinnerung sorgt für eine gewisse Nüchternheit und relativiert somit die Brisanz damaliger Erlebnisse: "Ich erinnere mich an ein westliches Magazin, das wir zu Hause hatten; auf dem Umschlag war Jane Fonda in einem nassen T-Shirt - und ohne BH." Der Ausspruch "Lange Haare - kurzer Verstand" war in ganz Europa verbreitet. Im sozialistischen Prag enthielt er eine weitere, ungeahnte Bedeutung: "Ich erinnere mich, dass dieser Slogan in der Vitrine des Propagandazentrums in der Hermannstraße hing. Ich erinnere mich, dass ich mit einem Freund dort ein Porträt von Marx auf die Scheibe klebte."

Ouredník hat ein buntes Kaleidoskop verschiedenster Splitterchen zusammengestellt, die er präsentiert aber nicht kommentiert, da sehr viele dieser winzigen Sequenzen für sich selbst sprechen: "Ich erinnere mich an eine andere Zeitungsschlagzeile: Unsere Republik steht mit beiden Beinen am Boden." Die anekdotische Verknappung aus der Retrospektive nutzt Ouredník als stilistisches Mittel, um den ganzen Widersinn einer politisch verordneten Wirklichkeit zu entlarven. Zitate aus den offiziellen Presseorganen bieten hierfür geeignete Möglichkeiten und in diesem Zusammenhang erinnert sich Patrik Ouredník an politische Kampagnen gegen die Bürgerrechtsbewegung Charta 77, dass "die Leute irregeleitet waren" oder "die Konterrevolution schleichend".

Die wahren Kennzeichen eines politischen Systems kann man an jenen Anekdoten erkennen, die einen schonungslosen Abgrund in scheinbar harmlosen Begebenheiten offenbaren. In Böhmen gelten die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk nicht von ungefähr als Paradebeispiel eines gesellschaftskritischen Sprengsatzes mit Zeitzünder. Gerade weil es uneinsichtig ist, ob es sich bei dem Protagonisten um die personifizierte Gutmütigkeit oder tatsächlich um einen gewaltigen Trottel handelt, werden starre Mechanismen eines gewaltigen Militärapparats ausgehebelt. Hier bewegen sich die Erinnerungssplitter von Patrik Ouredník durchaus in einer landesspezifischen Tradition, wenn er an einen unbekannten Mann erinnert, "der irgendwo hinter Pilsen einfach damit begonnen hatte, Kilometersteine anzustreichen. Er tat dies bis zur Grenze, tagsüber strich er, nächtens zechte er mit den Grenzern, und eines schönen Tages strich er sich so über die Grenze und verschwand in Deutschland."

Zum Wesen der Erinnerung gehört, dass sich das Gedächtnis täuschen kann und man somit einer Fälschung unterliegt. Andererseits geben gerade Erinnerungen an verfälschte Begebenheiten besondere Einblicke frei. Man sollte sich lediglich davor hüten, jeder Erinnerung ungeprüft einen Wirklichkeitsrang zuzusprechen.

In Patrik Ouredníks Reservoir kreisen derlei widersprüchliche Gedanken um den Schriftsteller Bohumil Hrabal, dessen so genannte Selbstkritik in der gleichgeschalteten Zeitschrift "Tvorba" im Januar 1975 für große Aufregung gesorgt hatte. Ouredník zitiert einen Satz von Karel Kryl im Radio Freies Europa - "Solange Vaculík nicht publizieren darf, ist Hrabal eine Hure" - und erinnert sich, "wie mir dann jemand sagte, dass er daherfasle". Den Unmut in der Szene der Oppositionellen und Unangepassten gegenüber Bohumil Hrabal hatte es tatsächlich gegeben. Zugleich muss aber festgestellt werden, dass viele verbotene Schriftsteller wie übrigens auch Ludvík Vaculík selber immer solidarisch mit Hrabal gewesen waren.

Es war dem Regime nicht gelungen, den Schriftsteller Bohumil Hrabal und dessen Werk auseinanderzudividieren und zu beschmutzen. Insofern können dahingestreute Erinnerungen, ohne dass ihr Umfeld sowie die Bedingungen ihres Zustandekommens erläutert werden, in die Irre führen. Hier muss ein kritisches Nachdenken einsetzen. Wenn es aufgrund von Ouredníks Erinnerungen in Gang gesetzt wird, dann haben diese sich durchaus gelohnt.


Titelbild

Patrik Ourednik: Das Jahr vierundzwanzig.
Übersetzt aus dem Tschechischen von Michael Stavaric.
Czernin Verlag, Wien 2006.
87 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-10: 3707601668

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