Brückenbauer zwischen Polen und Deutschland

Karl Dedecius' anekdoten-und gedichtreiche Lebenserinnerungen

Von Ursula HomannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Homann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Rechtzeitig zu Karl Dedecius' 85. Geburtstag am 20. Mai 2006 erschien sein Erinnerungsband "Ein Europäer aus Lodz", mit dem er sicherlich vielen seiner Freunde und Leser, vor allem jenen aus Polen und Deutschland, eine große Freude bereitet hat. Immerhin ist er als literarischer Übersetzer und Interpret polnischer Literatur und nicht zuletzt als Entdecker der polnischen Lyrik des 20. Jahrhunderts gegenwärtig der wichtigste Vermittler polnischer Kultur in Deutschland.

Geboren wurde Karl Dedecius als Sohn deutscher Eltern im Jahr 1921 in der polnischen Stadt Lodz, in der die polnische und die deutsche Kultur ebenso zu Hause waren wie die jüdische und die russische. Hier besuchte Karl Dedecius ein polnisches humanistisches Gymnasium, weil es nur halb so viel kostete wie das deutsche. In seiner Klasse gab es Polen, Deutsche, Juden, Franzosen und einen Russen. Der Direktor des Gymnasiums legte großen Wert darauf, dass die Schüler zu Toleranz, gegenseitigem Respekt und zu Europäern erzogen wurden.

Mit den Dichtern Adam Mickiewicz und Julian Tuwim, den Dedecius übrigens heute noch immer wieder ins Deutsche überträgt, ist er groß geworden. Der erste polnische Dichter, den er übersetzte, war Jan Kochanowski. Er übersetzte ihn in der Schule aus dem Lateinischen. Auch Jan Parandowskis Werke wurden in seiner Klasse gelesen. Später, 1965, ist Dedecius dem Schriftsteller im Warschauer Kulturpalast persönlich begegnet.

An all diese Einzelheiten musste Dedecius denken, als er in den 90er-Jahren durch Deutschland reiste und bei Lesungen und Vorträgen über Polen, über seine Dichtung, Literatur, Kultur und Politik sprach, über dessen Heimweh nach Europa und nach Schutz und Sicherheit im Westen.

In seinem Erinnerungsband hat er vieles festgehalten: Klassenfahrten, Berufspläne, den polnischen Antisemitismus, seine Matura im Mai 1939, den polnischen Arbeitsdienst, der allerdings nicht von langer Dauer war. Denn der Krieg brach aus und traf sie alle völlig unvorbereitet.

Dedecius wurde Soldat, kam nach Stalingrad, geriet in Gefangenschaft und erkrankte schwer. Während der Genesung begann er mit Hilfe einer Ärztin aus Kiew, russische Gedichte zu lesen und zu verstehen und übertrug sie bald darauf, um die eigene Hinfälligkeit und das allgegenwärtige Elend zu vergessen, ins Deutsche, zuerst Gedichte von Michail Lermontow, dann von Sergej Jessenin.

1949 wurde er schließlich aus der Gefangenschaft entlassen. In Weimar traf er seine Verlobte Elvira Roth wieder, die er bald darauf heiratete. Seine Eltern wiederzusehen, war ihm dagegen nicht vergönnt. Die Mutter war während seiner Abwesenheit an Krebs gestorben, der Vater offensichtlich von russischen Vagabunden erschossen oder erstochen worden.

Dedecius arbeitete zunächst im Finanzministerium Erfurt und vervollständigte in seiner Freizeit seine Lermontow- und Jessenin-Übersetzungen. Durch diese wiederum gewann er Zugang zum örtlichen Schriftstellerverband und wurde Oberassistent am Deutschen Theater-Institut im Schloss Belvedere. Als jedoch der ideologische Druck zunahm, wechselte die immer größer werdende Familie, um dem Spitzelsystem zu entgehen, in den Westen über.

Von nun an führte Dedecius ein Doppelleben. Anfangs arbeitete er beim "Pfälzer Tageblatt" als Korrektor. Am liebsten wäre er freilich Übersetzer oder Lektor für slawische Literatur geworden. Doch beim Suhrkamp-Verlag hatte man ihm keine Hoffnung gemacht. "Nach diesem Krieg wird sich in Deutschland niemand mehr für slawische Literatur interessieren" hatte er vom Verleger zu hören bekommen.

Dedecius ging daher 1953 ein Arbeitsverhältnis mit einer Versicherungsgesellschaft ein, bei der er dann fünfundzwanzig Jahre gearbeitet hat. Nebenbei jedoch publizierte er Bücher, Funk- und Zeitschriftenbeiträge, hielt Vorträge und bat Verlage, Redaktionen, Literaturwissenschaftler und Kritiker, ihm bei seinen Recherchen und beim Sammeln von Materialien über polnische Literatur behilflich zu sein. Auf diese Weise erhielt er viele Anregungen. In den "Mickiewiz-Blättern" erschien zum 1. September 1959 seine erste geschlossene Publikation polnischer Lyrik - ein Druckbogen mit dem Titel "Leuchtende Gräber. Verse gefallener polnischer Dichter."

Seine erste Anthologie - er hatte die Texte "con amore gesammelt und übersetzt" - wurde unter dem Titel "Lektion der Stille" veröffentlicht.

Im zweiten Teil seines Buchs berichtet der Autor ferner von seiner ersten Reise nach Polen nach dem Krieg im Spätherbst 1959, auf der er den Polonisten und Germanisten Mieczyslaw Jastrun kennen lernte. Von dieser Reise brachte er Bücher der gerade wieder entdeckten Dichter Witold Gombrowicz und Bruno Schulz mit.

Aber Dedecius hat nicht nur den in Polen lebenden Dichtern seine Aufmerksamkeit geschenkt, sondern auch den Emigranten, die in ihrer polnischen Heimat verschwiegen oder als Verräter geächtet wurden.

Mit vielen, in zeitgeschichtliche und politische Zusammenhänge eingebetteten Biografien wird der Leser vertraut gemacht und erhält anschauliche Einblicke in Leben und Werk einzelner Dichter, zum Beispiel von Stanislaw Lec, von Julian Przybós, der bei einer Dichterversammlung verschied, von Czeslaw Milosz, Zbigniew Herbert, von der feinsinnigen Dichterin Wislawa Szymborska und vielen anderen. Hin und wieder werden auch Gedichte eingefügt. Unermüdlich hat Dedecius in dieser Zeit polnische Gedichte ins Deutsche übersetzt, sogar Gedichte von Karol Wojtyla, ohne zu ahnen, dass es die Gedichte des damals künftigen Papstes waren. Unversehens rücken bei diesen Schilderungen und Betrachtungen Familie und Privatleben mehr und mehr in den Hintergrund.

1978 nahm Karl Dedecius Abschied von seinem Arbeitgeber, der Allianz, und entschied sich für den Aufbau des heute allbekannten Deutschen Polen-Instituts auf der Darmstädter Mathildenhöhe, das sich fortan der Erforschung, Darstellung und Vermittlung der polnischen Literatur und Kultur widmete.

In den folgenden Jahren wurde das siebenbändige Lese- und Nachschlagewerk "Panorama" herausgegeben sowie diverse Anthologien, die die Vielgestaltigkeit der polnischen Literatur deutlich machen, und die "Polnische Bibliothek" in deutscher Sprache, nach deren Vorbild ein Krakauer Verlag eine deutsche Bibliothek in polnischer Sprache ins Leben rief. Außerdem hat der Autor und Übersetzer weiterhin, wie sein Band "Mein Russland im Gedicht" zeigt, russische Lyrik übertragen.

Zwischendurch sammelte Karl Dedecius, der fast im Alleingang die polnische Literatur in Deutschland bekannt und sich als Brückenbauer zwischen Polen und Deutschland einen Namen gemacht hat, ohne Studium und Lehre Ehrendoktortitel sowie literarische und andere Preise.

Nach fast zwanzig Jahren gab er seine Arbeit am Institut auf. Die Arbeit dort sei, bekennt er freimütig in seinem Erinnerungsband, neben den Schuljahren in Lodz die schönste und fruchtbarste Zeit seiner Biografie gewesen. Heute setzt er in Frankfurt seine polonistischen Arbeiten fort, am häuslichen Schreibtisch, unter Wegfall fast aller Dienstreisen und repräsentativen Verpflichtungen.

Marion Gräfin Dönhoff, mit der Dedecius guten Kontakt hatte wie auch mit Richard von Weizsäcker und anderen Koryphäen unserer Zeit, sagte einmal: "Ohne Zweifel können wenige Leute mit soviel Befriedigung auf ihr Leben zurückblicken und auf den Erfolg ihres Bemühens um Frieden und Versöhnung."

In einfacher, schnörkelloser Sprache, das sei noch kurz angemerkt, ist Karl Dedecius mit seinen Lebenserinnerungen auch eine lebendige anekdoten- und gedichtreiche Literaturgeschichte gelungen, die spannend und informativ zu lesen ist und sich sogar als Nachschlagewerk zur polnischen Gegenwartsliteratur hervorragend eignet.


Titelbild

Karl Dedecius: Ein Europäer aus Lodz. Erinnerungen.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2006.
384 Seiten, 22,80 EUR.
ISBN-10: 3518417568

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