Melancholische Wanderungen auf europäischen Ruinenfeldern

Ein aufschlussreicher Tagungsband zum Werk W.G. Sebalds

Von Timm MenkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Timm Menke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der britische Kulturkritiker George Steiner vertritt die Ansicht, das 20. Jahrhundert sei das Zeitalter zweier europäischer Bürgerkriege, die zur Zerstörung des Kontinents geführt hätten, und letztlich zu einem kulturellen Suizid. Wenn diese These richtig ist, und einiges spricht für sie, dann ließen sich die Protagonisten und Erzähler in vielen Werken W.G. Sebalds als Heimatlose verstehen, die in den Ruinen als Palimpsest von 2000 Jahren europäischer Zivilisation herumirren und nicht mehr nach Hause finden. Der 1944 geborene Sebald wanderte in den sechziger Jahren von Westdeutschland nach England aus und blieb dort bis zu seinem Tode im Dezember 2001, ohne je wieder auf dem Kontinent heimisch zu werden.

Die Beliebtheit seiner Werke in der Literaturwissenschaft ist ein erstaunliches Phänomen. So verzeichnet die "MLA International Bibliography" allein für den Zeitraum vom Januar 2002 bis zum Dezember 2005 nicht weniger als 63 Beiträge zu seinem Werk. Da dürfte selbst die rege Arno-Schmidt-Forschung neidisch werden.

"Politische Archäologie und melancholische Bastelei": der Titel des vorliegenden Buchs, dem Ergebnis einer Sebald-Konferenz in München im Jahr 2004, beschreibt angemessen die Essenz seiner Texte, in denen fast immer eine historische Spurensuche durch oftmals schwermütige Protagonisten aufgezeichnet ist. Die Beiträge im Band gehen inhaltlich über die bislang untersuchten thematischen Bereiche von Trauma und Holocaust in den Werken hinaus und stellen zu Recht ästhetisch-formale Aspekte in den Mittelpunkt: Denn Sebald ist ein großer Sprachkünstler.

Generell sind die Aufsätze in vier Abteilungen untergliedert, deren wichtigste erwähnt werden sollen: Der erste Teil beschäftigt sich dem Verhältnis von Text und Bild bei Sebald. Hier muss an erster Stelle der Beitrag von Helmut Lethen genannt werden, der am Beispiel der "Ringe des Saturns" herausarbeitet, wie die Photos eine "ontologische Unruhe in den Text" bringen, und dass sie nichts 'beweisen' wollen, denn sie lassen sich nicht einer je singulären Bedeutungsebene zuordnen. Vielmehr erzeugten sie eine zirkuläre Bewegung in den "linearen Zug des Textes" und eröffnen so eine eher geschichtsphilosophische Dimension im Werk. Ebenso einleuchtend, wenn auch weniger differenziert, ist die These von Alexandra Tischel von den "fiktionsinternen und fiktionsexternen" Bedeutungen der Photos als poetologisches Konzept in "Austerlitz". Wie Lethen weist Tischel auf die durch die Bilder verstärkte kreisförmige Struktur des Erzählten hin. Claudia Albes liest diesen Roman in ihrer Untersuchung von "Nach der Natur" mit Paul de Man als autobiografischen Text, in dem die Bilder zur "Chiffre für die sprachlich nicht zu beleuchtenden Seiten seiner selbst [des Autors] " werden.

Der zweite Teil beschäftigt sich mit Sebalds Heimat-Komplex. Gisela Ecker interpretiert diese nahezu ubiquitäre Thematik im Œuvre mit Sigmund Freud als autobiografische und historische "Grabungsstellen", als das verlorene Vertraute, das bei seiner erneuten Besichtigung als etwas Unheimliches und Gespenstisches zurückkehrt. Alle Versuche einer Rückkehr in eine solche Heimat müssen in den Erzählungen Sebalds scheitern. Schließlich interpretiert Anne Fuchs in ihrem feinsinnigen Aufsatz die "Ruinenästhetik" in Sebalds Prosa als eine Allegorisierung der (Human-)Geschichte als Naturgeschichte. Wenn erstere immer wieder umschlägt in eine Metaphysik der Naturgeschichte, dann daher, weil bei Sebald die Ruinen der Heimat und ihr Verlust (implizite der Untergang der europäischen Zivilisation) den letztendlichen Sieg der Natur über die Geschichte demonstrieren. Diese Perspektive wirft dann auch neues, relativierendes Licht auf den viel kritisierten "Luftkrieg und Literatur"- Essay Sebalds.

Poetologische Erörterungen bestimmen auch den dritten Teil des Bandes. Doren Wohlleben stellt Überlegungen über die Unschärfe als literarisches Mittel bei Sebald an und eröffnet damit nolens volens noch ungesehene Analogien zur zeitgenössischen darstellenden Kunst - zu den Bildern von Gerhard Richter, der ja auch Undeutlichkeit und Verwischung als künstlerische Technik verwendet. Und ganz ähnlich (wie Richter in der Malerei) sieht Wohlleben in den Texten Sebalds, wie sich dort erst durch die Unschärfe der Beschreibung eine literarische Authentizität herausbilden kann. Sie nennt dieses Prinzip des Erinnerns vom Vergessenem "Effet de flou", wobei Erinnerungsfehler durchaus als Methode des Autors begriffen werden, und sein hypotaktischer Stil im Gegensatz zur glasklar-logischen Syntax bei z. B. Kleist sich durchaus als gewollt aberrativ konstiuiert.

Michael Niehaus rekurriert auf Schillers Begriff der Sentimentalischen Dichtung, um den Status und die Oberfläche der Sebald'schen Prosa näher zu beleuchten. Er stellt fest, dass die Ich-Erzähler in den Texten weder mit dem Autor identisch sind noch als fiktional aufgefasst werden können, da jeweils ein sentimentalisches "Ich" im Sinne Schillers spreche, eines "Ich", dessen Stellung in den Texten freilich "prekär und haltlos" ist. Und es ist für Niehaus gerade diese melancholische Position der Erzähler, die der Prosa Sebalds ihre literaturgeschichtliche Bedeutung für die Gegenwart verleihe.

Das Geschichtskonzept des melancholischen Erzählers als Vehikel einer Zivilisationskritik - diesem Zusammenhang geht auch Claudia Öhlschläger in ihren Ausführungen zu "Die Ringe des Saturn" nach. Sie versteht Sebalds Zivilisationsgeschichte der Moderne als Verfallsgeschichte im Sinne Walter Benjamins und betont die Darstellung der Entfremdung des Menschen angesichts seiner Brutalität und Bösartigkeit in "Die Ringe des Saturn" als einer Aberration dessen, was den Menschen als humanes Wesen ausmachen könnte.

Komparatistische und rezeptionsgeschichtliche Beiträge vervollständigen den Band, der einen wirklichen Fortschritt in der Sebald-Forschung darstellt - insbesondere, weil er sich in den maßgeblichen Beiträgen auf künstlerisch-literarische Fragestellungen konzentriert und so unser Wissen um die Ästhetik der Texte von W.G. Sebald ein ordentliches Stück weiter bringt.

Ein Ende der literaturwissenschaftlichen Begeisterung für Sebald, diesen exemplarischen postmodernen Autor, ist nicht in Sicht. Das mag einmal an der hohen literarischen Qualität und der kulturgeschichtlichen Bedeutung seiner Texte, andererseits vielleicht aber auch an dem wiederholt beklagten Mangel an erstklassiger deutscher Literatur in den letzten 25 Jahren liegen. Im Sommer 2006 nun findet in Sydney in Australien eine internationale Konferenz zum Thema W.G. Sebald und Exilliteratur statt. Auf den Tagungsband darf man schon jetzt gespannt sein. Es bleibt zu hoffen, dass er nicht hinter das hier Vorgelegte zurückfällt.


Titelbild

Michael Niehaus / Claudia Öhlschläger (Hg.): W. G. Sebald. Politische Archäologie und melancholische Bastelei.
Erich Schmidt Verlag, Berlin 2006.
275 Seiten, 39,80 EUR.
ISBN-10: 3503079661

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