Die Lust am Töten

Joseph Boyden erzählt in "Der lange Weg" von Cree-Indianern, die im Ersten Weltkrieg kämpften

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Xavier kommt zurück. Der kanadische Cree-Indianer hat im Ersten Weltkrieg gegen die Deutschen gekämpft, jetzt ist der Krieg aus. Nur nicht für Xavier. Viel hat er mitgebracht: eine Verstörung, eine Drogensucht, den Horror, der sich in seinen Körper gefressen hat. Er kommt zurück, zum Sterben.

Drei Tage lang rudern jetzt Xavier Bird und seine Tante Niska, die ihn am Bahnhof abgeholt hat, den Fluss hinauf, um nach Hause zu kommen. Sie schweigen, sie denken nach, sie erinnern sich. Um ihn aus seiner drogengestützten und kriegsbedingten Lethargie herauszuholen, erzählt sie ihm ihre Geschichte. Ihr Vater war Schamane des Stamms, bis die Weißen kamen und ihre Kultur langsam unterging. Sie erinnert sich an die Karibujagd und den Pelzhandel, die Schwitzhütte und an Winter, die so kalt und hart waren, dass sie fast verhungerten. Auch von seiner Kindheit und Jugend und seinem Freund Elijah erzählt sie: Xaviers Mutter war Alkoholikerin und gab ihren Sohn in ein Internat, wo ihm die indianische Tradition ausgetrieben werden sollte und wo er Elijah kennen lernte. Niska entführte ihren Neffen Xavier aus dem Internat und lebte mit ihm in den Wäldern. Sie brachte ihm das Jagen bei und zeigte ihm, wie es ist, Schamane zu sein. Einmal ist er dabei, wie sie als Schamanin und Geisterjägerin einen Fall von Kannibalismus verfolgt und den Täter eigenhändig tötet.

In Kanada leben manche Indianer noch traditionell, andere wissen schon gar nicht mehr, wie sie in der modernen Welt leben sollen. Und dann kommt der Krieg, technisch, rational und brutal. Im Ersten Weltkrieg wurden auch Cree-Indianer Kundschafter und die besten Scharfschützen des Regiments. Es ist ein verrückter, pervertierter Kosmos, in dem Indianer durch eine brutale Welt wieder zu ihren Ursprüngen als Jäger und Fährtenleser geführt werden. Und Elijah lässt sich pervertieren, wird drogensüchtig, beginnt, die Skalps seiner Opfer zu sammeln. Er ist ein Held geworden und versteht nicht, dass gerade sein bester Freund Xavier ihn davor retten will.

Joseph Boyden, Kanadier von irischer, schottischer und indianischer Abstammung, ließ sich für seinen Roman "Der lange Weg" vom indianischen Kundschafter und Scharfschützen Pegahmagabow inspirieren, dem späteren Häuptling der Wasauksing. In lang ausholenden Bögen erzählt er von einer Freundschaft, die nicht frei von Spannungen ist, nicht frei von Eifersucht. Denn während Xavier immer schon schüchtern und schweigsam gewesen war, ist Elijah schnell der Held bei seiner Truppe. Sie sind auch im Krieg Vertraute, Elijah erzählt ihm als Einzigem alles, was er tut. Und so merkt Xavier bald auch, wie sich Elijah verändert, wie er Lust am Töten bekommt, wie er immer mehr sein Schicksal herausfordert, sich immer gefährlichere Einsätze aussucht: Er will einen Rekord im Töten aufstellen. Elijah dagegen hasst, was er tun muss, fühlt sich schuldig und kann dennoch nicht anders.

Im Krieg wird alles zerstört, nicht nur die Körper: Liebe, Freundschaft, das Gute im Menschen. Niska erkennt das schnell, sie hört seine nächtlichen Alpträume. Das Einzige, was sie dagegen tun kann, ist, ihm ihre Welt zu zeigen: die Welt der Natur, der Stille, die Welt der Bäume, Flüsse und Tiere. Sie ist eine "Hookimaw" geworden, eine Heilige Frau, Schamanin und Heilerin gleichzeitig. Mit aller Kraft und viel Geduld versucht sie, Xavier die alten Werte wieder nahe zu bringen und ihn mit sich und der Natur zu versöhnen.

Das Buch "Der lange Weg" ist keine einfache Lektüre. Nicht nur, weil es so eindringlich vom Krieg erzählt. Sondern auch, weil es ständig zwischen Gegenwart und Vergangenheit hin- und herpendelt, zwischen Erinnerungen und Erleben, Gedachtem und Gesagtem. Es zeigt den europäischen Krieg aus einer sehr ungewohnten Perspektive, der indianischen, die für uns immer noch etwas Exotisches hat, einen Touch von Karl May. Lakonisch und präzise erzählt Boyden vom Gaskrieg, dem Leben in den dreckigen Gräben, den Stoßtrupps, der Angst, der Verzweiflung und dem Grauen.

Es ist dabei einfach und direkt geschrieben, in einem kraftvoll, bildhaften, aber nicht überladenen Stil, mit raffinierten Rückblenden, mit vielen verschiedenen Erzählsträngen und Themen, die aber immer wieder aufeinander bezogen werden. Boyden erzählt vom Untergang der traditionellen indianischen Lebensweise und dem Trauma des modernen Kriegers, wechselt ab zwischen spirituellen und harten Erlebnissen in der Natur.

So ist "Der lange Weg" sowohl die Geschichte einer Heilung, Antikriegsroman und Porträt einer untergegangenen Kultur.


Titelbild

Joseph Boyden: Der lange Weg. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Bettina Münch und Kathrin Razum.
Knaus Verlag, München 2006.
448 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-10: 3813502708

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