Betrifft Benn

Eine Suchmaschine in Buchform, vulgo: Eine neue Benn-Bibliografie ist erschienen

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es gibt merkwürdige Lücken, die die literaturwissenschaftliche Forschung lässt: Personalbibliografien, Grundlagenwerke, Gesamtausgaben werden zwar in stetig wachsender Zahl von emsig arbeitenden, teilweise sich generös selbst ausbeutenden Wissenschaftlern auf den Markt geworfen. Trotz des Fleißes aber scheint es Bezirke zu geben, die nicht betreten werden (oder die man besser nicht betritt, wenn man den Eigentümern dieser Claims nicht zu nahe treten will).

Hinzu kommt eine merkwürdige, sich skrupulös bis verantwortungsvoll gebende Haltung eines Teils der Forschung, der lieber gar nichts publiziert, als sich dem Vorwurf mangelnder philologischer Sorgfalt auszusetzen (und seinerseits Verstöße gegen ein solches Reinheitsgebot mit penibler Schärfe ahndet, ohne Rücksicht auf die Nutzbarkeit auch unvollkommener Hilfsmittel zu nehmen). Vollständigkeit und Autopsie werden dabei zu absoluten Standards aufgewertet. Eine Bibliografie gilt nur dann als publikationsreif, wenn sie bis in die Details geprüft ist, was nicht zuletzt Kostengründe haben wird. Bücher drucken ist teuer, und dann steht so ein Fehler auf ewig fest fixiert. Welche Blamage!

Und wenn weder die Zeit noch die Mittel noch das Personal dazu da sind, die auf Dauer zweifellos notwendigen Arbeiten durchzuführen, die belastbare Ergebnisse erzielen, bleiben notwendige Hilfsmittel und Handreichungen unpubliziert. Gerade in den Zeiten von Datenbanken und Internetrecherchen aber fällt der Druck, nur vermeintlich perfektes Material zum Druck bringen zu dürfen, weitgehend weg. Ganz im Gegenteil, gerade jetzt wird es möglich, auch vorläufige Ergebnisse zur Verfügung zu stellen und sie - mit Unterstützung der gesamten Forschung - nach und nach zu verbessern, zu korrigieren und zu ergänzen. Zu hoffen ist, dass diese neuen Möglichkeiten auch den Druck auf Buchpublikationen ein wenig mindern.

Gottfried Benn scheint (wie teilweise sogar Bertolt Brecht oder Heinrich Mann) ein solcher Sperrbezirk zu sein; wie ist anders zu erklären, dass erst jetzt, nach etwa 20 Jahren, wieder der Versuch einer umfassenden Benn-Bibliografie unternommen worden ist. Höchste Zeit also, was Christian Hanna in diesem Jahr, pünktlich zum 50. Todestag Benns, vorgelegt hat. Hanna hat für den Zeitraum 1957 bis 2003 versucht, die gesamte wissenschaftliche Benn-Rezeption zu berücksichtigen, glücklicherweise mit einem Blick für Zusammenhänge, hat er doch, eigenen Aussagen zufolge, auch Publikationen einbezogen, die Benn als einen von mehreren Autoren behandeln oder thematisch bedeutend anschneiden. Klaus Theweleits "Buch der Könige" kann hier als Beispiel dienen. Auch Nachdrucke von Beiträgen aus dem Zeitraum vor 1957 hat Hanna verzeichnet, wie etwa Klaus Manns Benn-Repliken der dreißiger Jahre, die im Kontext der Expressionismusdebatte und Benns zeitweiliger Zuneigung zum Nationalsozialismus wieder aufgenommen worden sind. Dennoch lässt der Band (eingestandenermaßen) Lücken, etwa bei der Berücksichtigung feuilletonistischer Beiträge, deren Zahl wohl deutlich höher als das hier präsentierte Material sein dürfte.

Die Bibliografie ist alphabetisch geordnet, verzichtet dankenswerterweise auf Abkürzungen und kommt dabei auf über 2.500 Einträge. Wo nötig, sind die Einträge kommentiert, die Benn-Abschnitte etwa in vergleichenden Monografien gekennzeichnet (mit seltenen Ausnahmen, die aber nachrangig sind, wie Stichproben zeigen). Das Material ist mit wenigen, mit Stern gekennzeichneten Ausnahmen autopsiert. Man kann also von einer hohen Zuverlässigkeit des Materials ausgehen. Stichproben bestätigen das. Ein Werktitel-, ein Personen- und Sachregister und ein Register Periodika erschließen das Material. Verzichtet hat Hanna darauf, Vorab- und Nachdrucke miteinander zu verbinden, was dazu führt, dass etwa Theodor W. Adornos "Erpresste Versöhnung. Zu Georg Lukács' 'Wider den mißverstandenen Realismus?" gleich vier Einträge erhält. Aber solche Hinweise sind im Grunde Mäkelei.

Zumal in diesem Jahr mindestens eine weitere Benn-Bibliografie erscheinen wird, die die Lücke, die Hannah notgedrungen lässt, zu schließen vermag. Christiane Nowak wird in einem Memoria-Band die Benn-Forschung 1986 und (Mitte) 2006 in der Chronologie ihres Erscheinens vorführen und sich dabei nicht zuletzt auch auf Hannas Band stützen können. Hanna kann dabei für sich die Autopsie der Titel in Anspruch nehmen, was vermutlich folgende Bibliografen dazu verleiten wird, sich auf ihn gänzlich zu verlassen. Die Belastbarkeit der Angaben wird sich allerdings erst mit der Arbeit erweisen. Immerhin kann Nowak mit der Chronologie der Listung die Forschungsgeschichte abbilden und wohl auch (mindestens exemplarisch) die neueste Forschung dieses Jahres miteinbeziehen. Die bibliografische Situation sollte sich also in diesem Jahr deutlich verbessern. Hanna ruft zudem dazu auf, ihm Ergänzungen und Korrekturen zukommen zu lassen. Zu hoffen ist freilich, dass diese Korrekturen nicht erst bei einem möglichen Nachdruck zur Verfügung gestellt werden, sondern schnell und unkompliziert übers Netz erreichbar und distribuierbar sind. Eine Datenbank wäre hier hilfreich.


Titelbild

Christian M. Hanna: Gottfried Benn Bibliographie. Sekundärliteratur 1957-2003.
De Gruyter, Berlin 2006.
299 Seiten, 98,00 EUR.
ISBN-10: 3110186667

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch