"Laß' uns nicht von Sex reden"

Zwei Neuerscheinungen zu Liebe und Literatur

Von Markus SteinmayrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Markus Steinmayr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Liebe", beklagt Herder, "in einen Folianten gepackt, ist nicht Liebe mehr". Die schiere Unmöglichkeit der Übereinstimmung zwischen Gefühl und Ausdruck, zwischen dem höchst Individuellen der Emotion und dem höchst Allgemeinen der Sprache hat seit dem Beginn der Literatur unzählige Federn in Gang gesetzt. Die Sehnsucht nach dem einen Augenblick, in dem Körper und Seelen verschmelzen, in dem die Sprache versagt und die Körper singen, ist die Sehnsucht der Liebenden und der Literatur, die diesen Augenblick zu fassen sucht. Nicht wohl ganz von ungefähr füllen literaturwissenschaftliche Arbeiten über Liebe und Literatur ganze Regale unserer Bibliotheken. Zwei Neuerscheinungen reihen sich in dieses Regal ein, setzen aber auf unterschiedliche Art neue Akzente.

Das "Liebeskonzil"/ "Le concile d'amour" vereinigt in einem internationalen pluridisziplinären Kolloquium zwanzig Literaturwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler aus vier Ländern, um über die literarische Liebe nachzudenken. Die Reverenz, die die Herausgeberin Gislinde Seybert damit Oskar Panizzas großer "Himmelstragödie" "Das Liebeskonzil" aus dem Jahre 1887 erweist, erscheint auch als Leitbild der Veranstaltung. Die Tagung als Konzil unter dem Leitbild der Liebe - ein schöner Grund, wissenschaftlich nachzudenken. Schließlich ist, so die Herausgeberin, die Liebe "ein Laboratorium des Denkens". Doch die Aktenlage eines literaturwissenschaftlichen Konzils ist klar: Wie kann man literarische Liebe und metaphorisches Begehren in Zusammenhang bringen und als Reflexion über die Beziehung der Geschlechter darstellen? Was haben die Mechanismen der Liebe mit literarischen Techniken gemein? Was fasziniert die Akten der Literatur an der Liebe? Wie modelliert die Literatur das grundlegende Verhältnis zwischen dem Begehren des einzelnen nach Erfüllung seiner Sehnsucht und den Figuren der Ordnung des Gesetzes, an dem das Begehren sich bricht? Inspiriert ist dies natürlich von Roland Barthes großer Studie "Fragmente einer Sprache der Liebe" aus dem Jahre 1977, in der Barthes deutlich macht, dass die große Szenarien der Liebe in der Literatur (Goethe, Proust) immer auch Reflexionen über das Schreiben und die Möglichkeiten von Literatur sind. Die Liebe in der Literatur ist somit Reflexion über die Möglichkeiten der Fiktion.

Der Band versammelt die großen Liebesgeschichten und Liebesdiskurse des Abendlandes: ausgehend vom biblischen "Hohelied der Liebe", über La Fontaine, E.T.A. Hoffmann, George Sand bis zu Robbe-Grillet, die philosophische Reflexion bei Ficino und bei Descartes. Es sind große Geschichten und große Themen, komplex und vielschichtig wie der Gegenstand. Die Aufsätze geben ein Panopticon literarischer und philosophischer Reflexionsmöglichkeiten der Liebe.

Es ist zwar immer leicht verdächtig, einem Sammelband das vorzuhalten, was er nicht enthält. In einem Band mit solch einer Themenstellung darf jedoch ein Beitrag zu Franz Kafka nicht fehlen: Kafka hat ja radikal wie kein anderer die Spaltungsgesichte moderner Literaturliebe erzählt. Schließlich, so Kafka, sehne er sich nach "Befriedigung" seines Begehrens entweder durch "Beischlaf oder Literatur". Man weiß, wofür Kafka sich entschieden hat.

Der Sammelband präsentiert stattdessen diskursanalytische, psychoanalytische und historische Perspektiven, um die Facetten des Gegenstands aus unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten. Wirklich Neues liest man nicht, aber vielleicht ist die Erwartung angesichts des Themas etwas hochgegriffen. Jedoch zeigt der Aufsatz Gerhard Goebels über La Fontaine, wie die Literatur versucht, der Unüberschaubarkeit und der Unkalkulierbarkeit der Liebe Herr zu werden. Sie erzählt, indem sie zählt. Mathematisches Kalkül wird zur Grundlage der Narration. La Fontaine eröffnet damit ein Spiel, das ein Don Juan und ein Arthur Schnitzler spielen werden. Fortan wird der Liebende zum Sekretär der eigenen Sekrete, der in unendlichen Zahlenreihen und Listen seine erotischen Geschäfte einträgt. Das Formular der Liebe entsteht. Es verspricht - zumindest für eine Weile -, dass Liebe doch kalkulierbar ist, wenn man nur gut genug Buch führt. Statistik und Stochastik nehmen Besitz von der Liebe und sind doch außerstande, haltbare Prognosen und sichere Voraussagen über das Gelingen des nächsten erotischen Abenteuers zu machen. Und das ist vielleicht auch ganz gut so.

Einen ganz anderen Bereich des Liebesdiskurses leuchtet die Essener Dissertation von Elke Reinhardt-Becker aus. Reinhardt-Beckers Arbeit "Seelenbund und Partnerschaft. Liebessemantiken in der Literatur der Romantik und der Neuen Sachlichkeit" versucht, anhand eines kontrastiven Vergleichs zwei Umbrüche im Liebesdiskurs zu rekonstruieren: Zum Ersten die Entdeckung der romantischen Liebe und zum Zweiten die Entdeckung der neusachlichen Liebe. Reinhardt-Becker betritt hier ein relativ gut bestelltes Feld - insbesondere was die theoretische Modellierung des Themas angeht. Mittlerweile ist es nicht nur in der Systemtheorie Konsens, dass Liebe kein Gefühl, sondern ein Kommunikationscode ist, den zu beschreiben und zu entschlüsseln die Kulturwissenschaften angetreten sind. Liebe ist, so Luhmann in einer wunderbar paradoxen Formulierung, eine "ganz normale Unwahrscheinlichkeit". Dass die Untersuchung antritt, die heterogenen Ansätze der historischen Diskursanalyse und der Systemtheorie miteinander zu versöhnen, ist ambitioniert und vermag doch nicht zu überzeugen. Das liegt vor allem an der Vorgehensweise. Denn die Rekonstruktion beider Liebesdiskurse hätte in jedem Falle noch ganz andere als literarische Quellen in den Blick nehmen müssen - Ratgeber, medizinische Expertisen über Sexualität etc. pp. So hätte sich ein Feld erschlossen, auf dem die Liebe funktioniert.

Liebe ist, so Reinhard-Beckers Überzeugung, in der Romantik Kompensation der Flurschäden, die die beginnende Modernisierung der Verhältnisse im Binnenhaushalt der Individuen hinterlässt. Liebe ist "der Ort, an dem das Individuum sein Ich findet, der Entfremdung entgeht, keine Rollenspiele betreibt, keine Maske trägt und seine Einsamkeit überwindet". Hier entfernt sich Reinhardt-Becker vom systemtheoretischen Konsens. Der Systemtheorie ist es nämlich gerade nicht darum zu tun, der Liebe kompensatorische Funktion zuzuweisen. Für die Luhmann folgende Systemtheorie stellt die Intimkommunikation die einzige Möglichkeit in der Realität der modernen Funktionssysteme dar, in der die Person in ihrer Individualität eine Rolle spielt. Luhmann hat immer auf die Freiheit des modernen Individuums hingewiesen, sich zwischen unpersönlichen und persönlichen Beziehungen entscheiden zu können. Liebe ist eine Entscheidung für eine hochpersönliche Beziehung. In ihrer Untersuchung romantischer Quellen kann Reinhardt-Becker zeigen, dass Literatur nicht nur eine Widerspiegelung moderner Liebeskonzeptionen ist, sondern diese sogar teilweise erfindet. Und in Folge dessen imitiert das Leben die Literatur - eine folgenreiche Entwicklung, an der noch Flauberts Madame Bovary leidet.

Ganz anders wiederum verhält es sich mit der neusachlichen Liebe. Sie ist nach Reinhardt-Beckers das genaue Gegenmodell zur romantischen Liebe. Die neusachliche Liebe orientiert sich nicht mehr am Ideal der Innerlichkeit, sondern analog zu den ästhetischen und literarischen Programmen der Zeit an Oberflächen. Orientierung an Oberfläche dispensiert den einzelnen von der Suche nach Seelentiefe. In Gottfried Litors erotischem Ratgeber "Erfolg bei Frauen" wird sogar eine "Taktik des Herzens" und eine "Strategie der Sinne" empfohlen, um im Kriegsgebiet der Liebe zu reüssieren. "Verhaltenslehren der Kälte", so der Titel der großartigen Buchs von Helmut Lethen, ziehen in die Liebe ein.

Doch zwischen Programmatik und Wirklichkeit der Texte liegt häufig ein Graben. Denn die Studie Reinhardt-Becker hätte sicherlich von einer tieferen Aufarbeitung der Widersprüchlichkeit und der textinternen Konflikte in der Neuen Sachlichkeit profitieren können. Die Erzählung Reinhardt-Beckers gelingt allzu perfekt; manchmal regt sich jedoch angesichts des ein oder anderen Details der Widerspruch: Ist das wirklich so homogen? Funktioniert das wirklich so perfekt? Das schmälert aber keinesfalls den Versuch, die neusachliche Liebe aufzuarbeiten. Die Quellenbasis ist vorbildlich und birgt auch manche Überraschung. Auch hier bleibt die notwendige diskurshistorische Einordnung aus. Denn die neusachliche Epoche generiert ein unglaubliches Wissen vom sexuellen und liebenden Menschen. Fortschritte in Gynäkologie und Urologie, Veränderungen innerhalb des psychologischen Wissens, all dies sind Felder, auf denen sich der neusachliche Menschen und Autoren mit Wissen über Liebe versorgen.

Sowohl "Liebeskonzil" als auch "Seelenbund oder Partnerschaft" entführen den Leser in die geheimnisvolle Welt der Liebe. Sie ist eine Welt voller Überraschungen, voller Skandale, voller verschlungener Entwicklungspfade. Sie ist eine Welt, in der immer wieder etwas zu entdecken gibt. Und dass die Literaturwissenschaft als Entdeckerin auftritt, zeigt einmal mehr, wie wichtig sie ist: Denn ohne Literatur keine Liebe.


Titelbild

Gislinde Seybert (Hg.): "Das Liebeskonzil" / "Le Concile d´amour". Literarische Liebe und metaphorisches Begehren / Amour littéraire et désir métaphorique.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2004.
294 Seiten, 24,80 EUR.
ISBN-10: 3895284092

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Titelbild

Elke Reinhardt-Becker: Seelenbund oder Partnerschaft? Liebessemantiken in der Literatur der Romantik und der Neuen Sachlichkeit.
Campus Verlag, Frankfurt a. M. 2005.
344 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-10: 3593377233

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