Ein Buch voll Flut

Katharina Hagenas Dissertation über die Meeresmotivik in James Joyces „Ulysses“ zieht den Leser in die Tiefe

Von Jule D. KörberRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jule D. Körber

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Doktorarbeiten liquidieren Zeit, Geduld und Nerven. Sie werden zumeist nur von einer Handvoll Menschen in einem Fluss gelesen und verstauben dann in Archiven, nur noch von Interesse für einen kleinen Kreis von Experten.

„Ich habe so viele Geheimnisse in dem Ulysses hineingepackt, dass Professoren Jahrhunderte lang damit beschäftigt sein werden, sich darüber zu streiten, was ich wohl gemeint habe; das ist der einzige Weg, sich seine Unsterblichkeit zu sichern“, schrieb James Joyce.

Und trotzdem werden junge Frauen wie Katharina Hagena Erfüllungsgehilfinnen der Joyce’schen Unsterblichkeit und promovieren über den „Ulysses“ – und versinken damit in einem Roman, der, wie sie selbst sagt, zumeist nur als schöner Bücherregalzusatz gekauft wird. Tief eingetaucht wird in Joyces größtes Meisterwerk oft nur von Literaturwissenschaftlern und Bildungsfanatikern. Wer sich als normal Sterblicher durch den „Ulysses“ quält, hat sich schon fast einen Seefahrerorden verdient.

Katharina Hagena durchplanscht den „Ulysses“ mit größter Freude – und sucht dabei „Das Meer als sprachbildendes Element“. So lautet der Titel ihrer Doktorarbeit über den „Ulysses“, auf der „Was die wilden Wellen sagen“ basiert. Nahezu alles, was formell an eine wissenschaftliche Arbeit erinnert, wurde hier herausgespült, und was blieb, passt wohl am besten in die Kategorie „populäres Sachbuch“. In Zeiten, in denen die Kategorie Sachbuch mehr und mehr verwässert zugunsten einer literarisierten, leserfreundlichen Non-Fiction Form, beweist Katharina Hagena, dass auch Literaturwissenschaftliches für die breite Masse zugänglich gemacht werden kann.

„Ich würde gern einmal was Kleines über das Meer schreiben“, erklärte James Joyce zum Ende seines Lebens, als der „Ulysses“ schon längst im sicheren Hafen des Literaturkanons eingelaufen war.

Dabei ist auch schon der Ulysses vollkommen meerdurchrauscht, wie Katharina Hagena in jedem neuen Kapitel von „Was die wilden Wellen sagen“ ansteckend und begeistert nachweist.

So spült sie im ersten Kapitel „HoMeerisches“ frei und zeigt, wo im „Ulysses“ überall Hinweise auf das berühmte Vorbild des Romans, Homers Epos die „Odyssee“, versteckt sind. Denn obwohl nur drei der insgesamt 18 Kapitel des „Ulysses“ am Meer spielen, sind die Parallelen zu Homers Seefahrerabenteuer unverkennbar – Hagena demonstriert, dass der „Ulysses“ nicht einfach ein Großstadtroman ist, sondern ein Wassergroßstadtroman.

„Was bewundert Bloom, der Wasserfreund, der Wasserzapfer, der Wasserträger, am Wasser?“

Im zweiten Kapitel spürt sie alle Formen des Meeres und auch des Wassers im „Ulysses“ auf und wie Leopold Bloom, die Hauptfigur, das Wasser und Meer in seiner wandelbaren Aquazität bewundert. Dabei geht sie in ihrer Interpretation von Meerverweisen so weit, dass auch alle Getränke und Anmerkungen über Blut als maritim gelten. Nicht alles, was flüssig ist, ist mit dem Meer gleichzusetzen, denkt man da. Und doch, sie schafft es, dass auch da ihr eigentliches Thema nicht verwässert. Denn auch Bloom vergleicht den Blutkreislauf mit dem Meer, als er an einer Muschel lauschend sagt: „Das Meer glauben sie, hörn sie da. Singen. Ein Brausen. Dabei ist es doch Blut. Rauscht manchmal im Ohr. Naja, ist ja auch ein Meer eigentlich. Blutkörperchen die Inseln.“

Im 3. Kapitel zieht sie die Leser mit in den Sog des Sirenengesangs. Da wird nicht nur jedes weibliche Wesen des Romans auf seine Tauglichkeit als Meerjungfrau geprüft, sondern auch der kulturhistorische Hintergrund der Sirenenfigur durchschifft.

So fleht Stephen Dedalus im 9. Kapitel des „Ulysses“ den irischen Meergott Mananaan MacLir an und spricht über ein weiteres Wasserelement, das Hagena im 4. Kapitel unter anderem offen legt. Sie analysiert alle Wellen, Wirbel und Schneckenmuscheln des „Ulysses“ in ihrem 4. Kapitel, und auch wenn sie hier wieder einmal vielleicht zwei, drei Interpretationsschritte zu tief taucht – wie zum Beispiel Spiegel als Zeichen des Meeres zu deuten, weil Wellen physikalisch spiegelsymmetrisch sind – so stellt auch dieses Kapitel logisch in einem Fluss mit den anderen.

Wenn man sich den „Ulysses“ genauer anschaut, entdeckt man schnell, dass es vor literarischen fluidalen Zitaten nur so sprudelt, schreibt Hagena im 5. Kapitel und zeigt nicht nur davon die wichtigsten, sondern auch Blooms literarische Versuche im „Ulysses“.

Bei all diesen maritimen Analysen, Einordnungen und Interpretationen schafft Hagena es auf ganz erstaunliche Weise, das ästhetische Prinzip, das sie im „Ulysses“ aus den Tiefen hervorgeholt hat, selbst anzuwenden. Das ganze Buch ist meerdurchrauscht, da blubbert und plätschert es an allen Ecken und Enden. Und so gelingt es ihr, auch literaturwissenschaftlich Unbedarfte in ihren „Ulysses“-Sog mit hinein zu ziehen und ihre übersprudelnde Leidenschaft für Joyce und das Meer zum Leser rüberschwappen zu lassen.

Für den Leser ergeben sich zwei Arten, dieses Buch zu rezipieren: als dahin plätschernden Zimmerbrunnen, klangschön, entspannend, nett und vor allem: harmlos unanstrengend. Oder aber er nimmt sich sein Kinderschlauchboot und stürzt sich damit in die Fluten. Bei Orkan. Ohne Rettungsweste. Im Bermuda-Dreieck. Und versucht, alles Aquaristische von der ersten bis zur letzten Seite bis auf den Grund zu verstehen. Das ist sicherlich die lohnendere Variante, „Was die wilden Wellen sagen“ zu durchschwimmen.

„Es gibt viele Arten zu ertrinken, und nicht für alle benötigt man Wasser“, schreibt Katharina Hagena und meint damit eigentlich Stephens Angst vor seiner eigenen Vergangenheit. Dabei könnte sie auch sich selbst meinen, ertrunken an Joyce. Den Leser mit in die Tiefen ziehend. Unter die Wasseroberfläche blickend. Und das ist auch gut so.

Titelbild

Katharina Hagena: Was die wilden Wellen sagen. Der Seeweg durch den "Ulysses".
Mare Verlag, Hamburg 2006.
179 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-10: 3936384924

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