Zwischen Frauendarstellern, Tempelhuren und Lingamsteinen
Wiederentdeckung: Magnus Hirschfelds "Weltreise eines Sexualforschers im Jahre 1931/32" in einer Neuausgabe in der "Anderen Bibliothek"
Von Oliver Pfohlmann
Besprochene Bücher / Literaturhinweise"Weltreise eines Sexualforschers" - dieser Titel weckt leicht falsche Erwartungen. Wer dabei an den Liebeszauber fremder Völker oder gar an exotische Sexualpraktiken denkt, sei gewarnt. Dem Berliner Arzt Magnus Hirschfeld, einem Pionier der Sexualwissenschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts, lag nichts ferner, als den Voyeurismus und Exotismus seiner Leser zu bedienen.
Hirschfeld war so etwas wie der Alfred Kinsey seiner Zeit. Der Prüderie und Heuchelei im wilhelminischen Kaiserreich hielt der Mediziner mit seinen empirischen Studien den Spiegel vor. Seine "Jahrbücher für sexuelle Zwischenstufen" klärten erstmals über das damals kriminalisierte "dritte Geschlecht", die Homosexuellen, auf. Bei seinem Kampf für das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung begleiteten Hirschfeld gerichtliche Auseinandersetzungen ebenso wie die Verleumdungen der bürgerlichen und völkischen Presse. Für die Nazis war der jüdische Vorkämpfer der Schwulenbewegung so etwas wie der Leibhaftige persönlich. Bereits 1920 wurde er von Rechtsradikalen auf offener Straße attackiert und schwer verletzt.
Der wachsende Erfolg Hitlers in Deutschland war es denn auch, der Hirschfeld 1931 zu seiner Weltreise bewegte. Nach einer Vortragstour durch die USA beschloss der damals 62-Jährige, einfach weiterzureisen. "Bei der Abfahrt von meiner Berliner Wirkungsstätte hatte ich eine Reise um die Welt weder beabsichtigt noch geplant. Dieser Gedanke entstand in mir erst, als ich zu meinem Erstaunen von Ort zu Ort, von Land zu Land wahrnahm, wie weit über Deutschlands und Europas Grenzen hinaus bereits die Kunde der von mir vertretenen Forschung über das menschliche Sexual- und Liebesleben gedrungen war. Überall, wohin ich kam, äußerte sich ein starkes Verlangen nach ernster, wissenschaftlicher Sexualaufklärung."
Anderthalb Jahre später hatte er den ganzen Fernen und Nahen Osten besucht, Japan, China, Indonesien, Indien, Ägypten und Palästina, und dabei einen Berg an sexualethnologischem Material gesammelt. 1933 erschien sein spannender Bericht in einem Schweizer Verlag, fand aber aufgrund der Zeitläufte kaum noch Beachtung. Er ist jetzt wiederzuentdecken - dank einer wunderschönen, um ein Vorwort von Hans Christoph Buch erweiterten Neuausgabe in der "Anderen Bibliothek".
Für den in seiner Heimat angefeindeten Forscher wurde die Reise zu einem globalen Triumphzug. Mit Genugtuung zitiert Hirschfeld die Lobeshymnen, die ihm ausländische Kollegen und Zuhörer ins Reisebuch schrieben. Unermüdlich und vor immer größer werdendem Publikum hielt er auf seiner Reise Vorträge: über 170 in 500 Tagen, vor Medizinern ebenso wie vor Studenten, in den Klubs der europäischen Kolonialherren ebenso wie vor chinesischen und indischen Frauenrechtlerinnen. Zunehmend entdeckte ihn auch die einheimische Bevölkerung: "Es hatte sich [...] während meines Aufenthaltes in Indien nach und nach die Kunde verbreitet, besonders auch auf dem Lande, es sei ein 'Weiser aus dem Abendlande' nach Indien gekommen, der in allen geschlechtlichen Fragen Rat wisse. Je länger ich dort weilte, um so mehr verstärkte sich dieser Ruf, so daß in den letzten drei Wochen vor meiner Abreise aus Indien die Zimmertüre meines Hotels in Bombay tatsächlich von früh bis spät von Hilfesuchenden umlagert war. In der Hauptsache handelte es sich bei dieser Wallfahrt um impotente Männer und sterile Frauen [...]".
Seine Patienten und Kollegen vor Ort weihten Hirschfeld auch in die jeweiligen Geschlechts- und Liebessitten ein. Gewöhnlich blieben Fremden die Hintergründe der asiatischen "Vielweiberei" ebenso verborgen wie die der sakralen Prostitution in indischen Tempeln. Auch dürften nur wenige Europäer vom "Such jöng" erfahren haben, der unter chinesischen Männern grassierenden Furcht, ihr Penis könnte urplötzlich unter der Bauchdecke verschwinden. Mit seiner unersättlichen Neugier auf die Mannigfaltigkeit des Menschseins interessierte sich Hirschfeld für das Schicksal japanischer Frauendarsteller ebenso wie für die "Kameradschaftsehen" unter chinesischen Lesben. Er unterhielt sich in den Teehäusern Tokios mit Geishas und mit den Prostituierten in ihren Elendsquartieren in Hongkong oder Singapur. In indischen Dörfern suchte er nach Lingam- und Yoniesteinen, an denen die Frauen ihre Fruchtbarkeitsrituale durchführten. Er nahm an einer ägyptischen Hochzeit teil und tanzte mit jungen Siedlern in Palästina die "Horra", den Lieblingstanz der Juden.
Ein Voyeur war Hirschfeld nicht, sondern ein Menschenfreund, frei von den üblichen Vorurteilen und voller Respekt vor fremden Kulturen. "Hier spricht nicht der Europäer zum Asiaten, nicht der Wissende zum Unwissenden, der Ältere zum Jüngeren, sondern ausschließlich der Mensch zum Menschen, jemand, der grundsätzlich auf Seiten der zu Unrecht Unterdrückten steht [...]." Weshalb Hirschfeld durchaus nicht nur alles kritiklos zur Kenntnis nimmt. Im Gegenteil: So drängt er seine japanischen Gastgeber dazu, endlich eine vernünftige Bevölkerungspolitik zu betreiben, könne das ungebremste Wachstum doch nur in einen Krieg münden. Die nordafrikanische Tradition der Beschneidung von Mädchen bezeichnet er in seinen Vorträgen in Kairo als "sinn- wie herzlose Grausamkeit". Ebenso in Indien die Tradition der "Purdah", die die Frauen völlig von der Außenwelt abschließt.
Vor allem aber kritisiert er Arroganz und Rassismus der europäischen Kolonialherren. Und sympathisiert mit dem Unabhängigkeitskampf der asiatischen Völker. Denn es ist eine Welt im Gärungszustand, im Umbruch, die dieser hellwache Beobachter bereist. In dem von Chiang Kai-shek regierten China informiert er sich über die Bauernarmee Mao Tse-tungs. In Allahabad prophezeit er dem jungen Nehru, einmal der erste Präsident eines unabhängigen Indiens zu werden; 15 Jahre später kommt es tatsächlich so.
So wird die Lektüre dem heutigen Leser zu einer melancholischen Zeitreise, die am Ende unvermutet in der Gegenwart zu münden scheint. Denn für die lebensfrohen ersten jüdischen Siedler in Palästina mit ihrem Traum von einem eigenen Staat fürchtete Hirschfeld ein böses Erwachen. Hatte er doch in Ägypten den arabischen Anspruch auf dieses Land kennen gelernt, der bereits zu ersten Anschlägen geführt hatte. Hirschfeld selbst musste seine Reise teuer bezahlen. In Indien zog er sich eine Malariaerkrankung zu, die mit zu seinem frühen Tod 1935 geführt haben dürfte. Auch sonst wurde es zu einer Reise ohne Wiederkehr: Hirschfeld wusste, was ihn im Nazi-Deutschland erwartete, und blieb im Exil.