Die Gangs von Sizilien
Geheimorganisation, Pseudoreligion und Schattenstaat: John Dickie erzählt die Geschichte der "Cosa Nostra"
Von Oliver Pfohlmann
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseLange war die Mafia aus den Schlagzeilen verschwunden. Fast hätte man glauben können, sie sei nur noch ein Fantasieprodukt Hollywoods. Da musste schon der capo dei capi, der Boss der Bosse, gefasst werden, um die Öffentlichkeit wieder an die Existenz der "Ehrenwerten Gesellschaft" zu erinnern. Dabei war es gerade Bernardo Provencano gewesen, der sich auf eine Grundregel der funktional differenzierten Gesellschaft besonnen hatte: Nur etwas, worüber berichtet wird, existiert auch in der Realität. Nach dem desaströsen Schlagabtausch seines Vorgängers Totò Riina mit dem italienischen Staat Anfang der Neunziger hatte "Der Traktor" die "Ehrenmänner" wieder auf Tauchstation gehen lassen.
Dass ihre Existenz so lange ignoriert wurde, war denn auch bis in die jüngste Zeit der beste Schutz der sizilianischen Mafia. Eine eben erschienene, profunde und erfreulich nüchtern erzählte Darstellung ihrer 140-jährigen Geschichte macht diese Einsicht deutlich. Für den britischen Historiker John Dickie, der es wie ein gewiefter Krimiautor versteht, mit Techniken der Informationsverzögerung Spannung zu erzeugen, sieht es so aus, "als sei jede Generation der Italiener dazu verdammt, die Mafia zu 'entdecken', als habe man noch nie von ihr gehört." Lange wurde auch die Ansicht vertreten, bei der "Mafia" handele es sich nicht um eine einzelne Organisation, sondern um eine in Sizilien verbreitete rückständige Mentalität.
Dickie zufolge muss die Cosa Nostra als ein Phänomen der Moderne begriffen werden, als "Gewaltindustrie". Entstanden ist die Geheimorganisation Mitte des 19. Jahrhunderts und damit etwa zeitgleich mit der italienischen Nation. Die Mafia ist ebenso eine elitäre Pseudoreligion für ihre Mitglieder wie ein Schattenstaat. Sie kassiert Steuern in Form von Schutzgeld und legitimiert ihre Entscheidungen durch Verfahren, mordet daher nicht, sondern richtet hin. In der Anfangszeit entwickelte Erkennungszeichen wie das gemeinsame Klagen über Zahnschmerzen oder Initiationsriten wie das Verbrennen eines Heiligenbildes in der offenen Hand sind bis heute gebräuchlich (FR vom 13.3.). Wie aber kam es dazu, dass die Gangs von Sizilien zu einer Organisation fusionierten?
Vermutlich waren die Vorteile dieser Kooperation ein schlagendes Argument: Die Organisation bot ihren Mitgliedern umfangreiche Garantien und Revierabsprachen und ermöglichte kriminelle Unternehmungen im großen Stil. Bereits 1863 schreibt Baron Turrisi Colonna, selbst ein zwielichtiger sizilianischer Politiker, von einer einzelnen "Sekte von Dieben" mit Verbindungen auf der ganzen Insel. Die riesigen Zitrusplantagen um Palermo boten ein ideales Umfeld für Schutzgelderpressungen. In kurzer Zeit kontrollierte die "Bruderschaft", wie sie sich damals nannte, Produktion und Transport der weltweit exportierten Früchte. Durch ihre Verflechtungen mit einem traditionell schwachen, zersplitterten politischen System wurde sie bereits vor 1900 zu einem integralen Bestandteil der italienischen Gesellschaft, mit Vetternwirtschaft, Klientelpolitik, Korruption und Entführungen als konjunkturunabhängigen Geschäftsfeldern.
Wenig zu lachen hatten die Ehrenmänner dagegen unter Mussolini. Einen Schattenstaat wollte der Diktator in seinem Reich nicht dulden und schickte den "eisernen Präfekten" Cesare Mori auf die Insel. Dieser inhaftierte freilich nicht nur reihenweise Mafiosi, sondern auch zahlreiche Unschuldige. Ihre Wiedergeburt verdankte die Mafia dem nach der Befreiung Siziliens entstandenen Machtvakuum sowie ihren Vettern von der amerikanischen Cosa Nostra, mit der sie in den Fünfzigern ein im Rückblick verhängnisvolles Bündnis einging.
Operierte die Mafia nämlich bis dahin auf Feldern, auf denen sie sich stets noch den Schutz politischer Interessenvertreter sichern konnte, so wurde sie nun zu gierig: Mit der neuen transatlantischen Heroin-Connection wurden die Bosse so reich und für die Gesellschaft gefährlich wie nie zuvor. Die Folgen: Zwei interne Mafia-Kriege mit mehr als tausend Toten, sowie das Beinahe-Ende der Organisation in dem Mammutprozess von 1987, der durch den Richter Giovanni Falcone ermöglicht wurde. Es waren vor allem die Corleoneser, Luciano Leggio und seine Ziehsöhne Riina und Provencano, die eine in der Geschichte der Mafia beispiellose Schreckensherrschaft errichteten und konkurrierende Clans komplett auslöschten. Am Ende war sich der Parasit Mafia selbst zum Wirtskörper geworden. Die Welle der pentiti, der Reuigen, die aus Angst vor Riina vor Gericht das Schweigegebot brachen, konnte erst Provencanos neuer, kooperativer Führungsstil stoppen.
So spannend wie die Geschichte der Mafia ist auch die ihrer Gegner, eine Geschichte voller Tragik, Ignoranz und verpasster Gelegenheiten. Dickie erinnert an frühe Opfer und Märtyrer, an mutige Ermittler wie Ermanno Sangiorgi: Sein nach 1898 entstandener Bericht für die Regierung lieferte ein vollständiges Organigramm der Mafia - nur um sogleich in den Archiven zu verschwinden. Für heutige Historiker wie John Dickie eine ebenso unschätzbare Quelle wie die Berichte der Aussteiger. Tommaso Buscetta, der erste pentito, der mit seiner Aussage Falcones Erfolg erst ermöglichte, avanciert gar zum heimlichen Helden von Dickies Buch. Exkurse über die Psychologie der Mafiosi und die Rolle der Frauen in dieser Männerwelt runden Dickies Darstellung ab.
"Wenn die Cosa Nostra existiert, hat sie auch eine Geschichte. Und wenn sie eine Geschichte hat, dann hat sie einen Ursprung, und sie wird auch ein Ende haben", lautete das optimistische Diktum des 1992 ermordeten Falcone. Bislang freilich hat sich die Mafia Veränderungen ihrer Umwelt stets erfolgreich anpassen können. Berlusconis Forza Italia erlaubte ihr die Erschließung neuer Geschäftsfelder, vom internationalen Waffenhandel bis zu den Fördertöpfen der EU. Unnachgiebig blieb Rom jedoch, was eine Freilassung der inhaftierten Ehrenmänner anging. Dickie betont die schwierige Situation Provencanos als Vermittler zwischen den Bossen im Gefängnis und den nachgerückten Youngsters und spekuliert über ein mögliches Ende der pax mafiosa mit dem Staat. Die Festnahme "Onkel Binnus" unmittelbar nach der Parlamentswahl lässt vermuten, dass er als Vermittler ausgedient hatte.
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