Ein rätselhafter Philosoph
Katharina Koch stellt Franz Joseph Molitors Kabbala-Rezeption vor
Von Andreas Korpás
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseFranz Joseph Molitor ist in der deutschen Philosophiegeschichte nahezu vergessen, obwohl Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Franz Xaver von Baader, Johann Joseph von Görres, Johann Michael Sailer und Gottfried Heinrich von Schubert seine Arbeit schätzten und nach Kräften unterstützten. Eine Dissertation versucht nun, dem Hauptwerk des Frankfurters den ihm gebührenden Platz in der Philosophiegeschichte zuzuweisen.
Die Autorin, Katharina Koch, nähert sich ihrem Gegenstand, der vierbändigen "Philosophie der Geschichte oder über die Tradition in dem alten Bunde und ihre Beziehung zur Kirche des neuen Bundes" (1827-1853), über die Biografie Franz Joseph Molitors an. Dieses Verfahren findet insofern seine Berechtigung, als es noch im 19. Jahrhundert eine gewisse Provokation darstellte, sich als Nicht-Jude auf wissenschaftlicher Ebene mit der jüdischen Geheimlehre auseinander zu setzen. Die Kabbala stellte für die Philosophie der Epoche eine terra incognita dar. Nur wenige christliche Autoren wie Johannes Reuchlin, Agrippa von Nettesheim, Giovanni Pico della Mirandola, Paulus Ritius oder Christian Freiherr Knorr von Rosenroth hatten sich seit dem 15. Jahrhundert mit der Kabbala beschäftigt. Katharina Koch zeigt, dass sich Molitor zwar rein äußerlich in diese Tradition der "christlichen Kabbalisten" einordnet, inhaltlich aber kaum aus ihr schöpft.
Molitor möchte zu den kabbalistischen Quellen vordringen, ihren Gehalt für die christliche Geisteswelt fruchtbar machen. Dabei spielt der gemeinsame schriftliche Ursprung von Judentum und Christentum eine eminent wichtige Rolle. "Weil Judentum und Christentum nur eine gemeinsame schriftliche Tradition hätten, zu der es in beiden Religionen verschiedene mündliche Interpretationen gebe, müsse die jüdische Mystik als allumfassendes Fundament der theosophischen Bildung auch von den Christen wahrgenommen werden. Die Mystik, die Wissen als Weg zum Heil definiert, ist in Molitors Sicht, die 'eigentliche Wissenschaft'", erklärt Koch. Die Autorin nimmt auch Bezug auf die eschatologische Mission des Autors der "Philosophie der Geschichte". "Er will", so schreibt sie, "nicht die jüdische Philosophie oder die jüdische Religion an sich darstellen, sondern die im Judentum bewahrte Tradition, aus der einst das Christentum entstand und die am Beginn des Eschatons die Juden zum Christentum bekehren wird."
Insofern muss Molitors Ansatz als bislang unbeachteter eigentümlicher Beitrag zur spätromantischen Religionstheorie gewertet werden. So wie Clemens Brentano in "Das bittere Leiden unseres Herrn Jesu Christi" (1833) und Johann Joseph von Görres in seiner "Christlichen Mystik" (1836-1842) Katholizismus und Mystik als Inhalt einer erneuerten, christlich inspirierten Spiritualität fanden, so war es für Molitor die Kabbala, die durch ihre hermetische Tradierungspraxis den ursprünglichen Kern des Christentums am sichersten bewahrt hatte. Ihre Entzifferung und Übersetzung sollte das Licht des Christentums in neuem Glanz erstrahlen lassen. Katharina Koch resümiert: "Der 'Kabbalist' Franz Joseph Molitor blieb bis heute im Wesentlichen eine mit einer romantischen Aura umgebene literarische Figur." Die frühen Schriften - "Ideen zu einer künftigen Dynamik der Geschichte" (1804), "Der Wendepunkt des Antiken und Modernen" (1805), "Über die Philosophie der modernen Welt" (1806), "Über die Tendenzen des jetzigen Zeitalters" (1808) und "Über den Geist der modernen Philosophie und die verschiedenen Stufen seiner Entwicklung" (1808) - sind für Koch nur insoweit interessant, als sie Molitors Herkunft aus der "romantischen Schule" demonstrieren. In der "Philosophie der Geschichte" finden sie keine direkte Fortsetzung. Ebenso wenig behandelt die Autorin Molitors von Johann Heinrich Pestalozzi inspirierte pädagogische Ansätze, die er u. a. in seiner Antrittsrede am Frankfurter Philanthropin im Dezember 1807 unter dem Titel "Einige Worte über Erziehung mit besonderer Rücksicht auf das jüdische Philanthropin" oder in seiner im Jahr 1808 publizierten Schrift "Über bürgerliche Erziehung. Mit Beziehung auf die Organisation des jüdischen Schulwesens in Frankfurt am Main" dargelegt hat.
Es waren mehrere Zufälle, die den Frankfurter Gelehrten mit der Geisteswelt des Judentums in Berührung gesetzt und seine Begeisterung für die Kabbala ausgelöst haben. Zunächst wird seine Lehrzeit am Philanthrophin, einer Schule für Frankfurter Juden, genannt. Dort kam er mit der Welt des Judentums auf ganz praktische Weise in Berührung. Alsbald wurde er Mitglied der Frankfurter jüdisch-christlichen Freimaurerloge "Zur aufgehenden Morgenröthe". Dieses geistige Umfeld stellte so etwas wie die Initialzündung für die ein Leben lang währende Auseinandersetzung mit der jüdischen Geheimlehre dar. Seine Logenreden wurden für die vorliegende Untersuchung leider nicht fruchtbar gemacht.
Nur durch seine exponierte Stellung als Meister vom Stuhl ("Josephus a Lingua Sancta") und den Kontakt zu Ephraim Joseph Hirschfeld wurde es Molitor möglich, die für sein Projekt benötigten finanziellen Mittel bei den Landgrafen und Freimaurern Christian Ludwig von Hessen-Darmstadt und Karl von Hessen-Kassel einzuwerben. Später war es Schelling, der ein lang jähriges Stipendium des Bayernköngis Ludwig I. vermittelte. Kochs Dissertation verweist deutlich auf diesen Aspekt und stellt zugleich die mangelnden Hebräischkenntnisse des Autors der "Philosophie der Geschichte" heraus. Schon Andreas Kilcher hatte mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass Molitor ohne die Hilfe seiner jüdischen Übersetzer - wahrscheinlich handelte es sich um zwei Frankfurter Rabbiner - niemals sein Riesenwerk hätte ausführen, ja nicht einmal beginnen können. "Wer auch immer Molitors jüdische Lehrer und Mitarbeiter waren, entscheidend ist, daß die langjährige und kontinuierliche Arbeit mit jüdischen Gelehrten die unumgängliche Bedingung und Basis seines Kabbala-Projekts bildeten", schreibt Kilcher. Koch spitzt diese These weiter zu: "Das Inventarium der kabbalistischen Quellen der Philosophie der Geschichte ist ein getreues Spiegelbild der kabbalistischen Texte, die seine jüdischen Lehrer lasen."
Ihre erklärte Absicht ist es, in die "Werkstatt" Molitors einzudringen. An Hand von zahlreichen Einzelbeispielen und Gegenüberstellungen zeigt sie auf, welche kabbalistischen Texte als Quellen Molitors gedient haben. Interessante Funde treten dabei zu Tage. So werden in dessen Auseinandersetzung mit der Kabbala die zentralen Bücher Bahir und Jezira nur am Rande erwähnt. Sie blieben für die "Philosophie der Geschichte" "fast bedeutungslos" (Koch). Gleichfalls fehlen die frühe Kabbala, die erst von Gerschom Scholem wiederentdeckt wurde, und die Kabbala Abraham Abulafias. Nach Katharina Kochs Auffassung spielt für Molitor die historische Entwicklung der Kabbala kaum eine Rolle. Sie widerstrebt sogar seinem missionarischen Anliegen, "da ihre Einheitlichkeit der Beweis für die Existenz einer authentischen jüdischen Tradition ist". Er kennt daher lediglich drei Phasen ihrer Entwicklung.
Molitor interessiere sich für das Judentum, so lautet ein von Hermann Greive erhobener Vorwurf, nur insoweit, als es ihm dazu diene, Juden zu Christen zu bekehren. Es steht für den "christlichen Kabbalisten" außer Frage, dass die jüdische Religion gegenüber der christlichen eine untergeordnete historische Vorstufe darstellt. Er trägt auch ganz persönlich, als Pädagoge am Philanthropin, dazu bei, Juden in die christliche Gemeinschaft zu integrieren. Katharina Koch stellt sich dieser Problematik, legt aber ihr deutliches Augenmerk auf die wissenschaftliche und historische Leistung der "Philosophie der Geschichte". Demzufolge beabsichtigte Molitor "das kabbalistische Denken in das Gedankengebäude des deutschen Idealismus zu übertragen."
Der letzte und weitaus größte Teil der Arbeit ist synoptischen Einzelanalysen gewidmet. In nahezu detektivischer Kleinarbeit arbeitet die Autorin heraus, welche Zitate aus kabbalistischen Quellen übernommen wurden und welchen Stellenwert sie in den vier Bänden des Molitor'schen Hauptwerks einnehmen. Neben den Schriften Chajjim Vitals wird der "Zohar" als "die zweite Säule der Molitor'schen Kabbala" identifiziert. Dieser Teil ist der für den philosophischen Laien am wenigsten verständliche. Zwar werden die hebräischen Zitate von Koch in deutscher Sprache wiedergegeben. Allerdings fehlt fast durchgängig eine Erläuterung der kabbalistischen Fachterminologie. Die Aneinanderreihung von nahezu zwei Dutzend kabbalistischer Autoren und ihren Werken lässt den Text zudem etwas sperrig werden. Sie zeigt aber deutlich, wie tief Molitor in die Auseinandersetzung mit seinen Quellen eingedrungen war und wie widersprüchlich dadurch seine Kabbalainterpretation zuweilen ist, die sich sehr eng an ihre Vorlagen anlehnt. Es bleibt auch völlig offen, inwiefern diese Arbeit seinem eschatologischen Anliegen gedient haben könnte. Es wird gleichfalls nur am Rande erwähnt, wie Molitor in der Welt der jüdischen Gelehrten rezipiert wurde.
Das rasche Versiegen der Popularität Molitors nach dem Erscheinen des ersten Bands der "Philosophie der Geschichte" weist auch darauf hin, dass seine Interpretation der Kabbala und ihre Darstellung nicht zu einer Popularisierung ihres Schriftkorpus dienen konnte. Nur so ist es zu erklären, dass das Werk nach dem Erscheinen des vierten Bands 1853 bis zu seiner Wiederentdeckung durch Gershom Scholem im Jahr 1915 fast vollständig in Vergessenheit geraten war. Scholems Einschätzung, "daß Molitor der einzige ernst zu nehmende christliche Kenner der Kabbala im Zeitalter des deutschen Idealismus und wohl im ganzen 19. Jahrhundert" gewesen sei, verweist auf die hohe Wertschätzung, welche dieser dem Frankfurter entgegenbrachte. Erst die Kabbalaforschung des 20. Jahrhunderts und die großartige, poetische Schreibweise Scholems konnte dem Wissen um die Kabbala einen Popularitätsschub verschaffen, der noch immer ungebrochen ist. Molitors historischer Leistung wurde dennoch, selbst im Kreise von Fachphilosophen, die Anerkennung bis heute verweigert.
Die Dissertation Katharina Kochs erscheint zur richtigen Stunde und demonstriert auf eindringliche Weise das gesteigerte Interesse an der jüdischen Tradition. Besonders hervorzuheben ist der sorgfältig erarbeitete Anhang, der eine Reihe bislang unbekannter Briefe von und an Molitor erstmals einer größeren Öffentlichkeit präsentiert und eine vollständige Liste aller Veröffentlichungen des Autors und der wichtigsten Sekundärliteratur bietet. Wer die Mühen einer wissenschaftlichen Spezialuntersuchung nicht scheut, wird von Katharina Kochs Arbeit zweifellos profitieren. Ihre Dissertation "Franz Joseph Molitor und die jüdische Tradition. Studien zu den Kabbalistischen Quellen der 'Philosophie der Geschichte'" ist eine gut geschriebene Untersuchung zu Denken und Werk einer der rätselhaftesten philosophischen Persönlichkeiten des 19. Jahrhunderts, die es dem Vergessen zu entreißen lohnt.