Shakespearomanie in Deutschland
Renata Häublein entdeckt Shakespeare auf der deutschen Bühne des 18. Jahrhunderts
Von Nina Birkner
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseAls Franz Hieronymus Brockmann 1776 zunächst am Hamburger Comödienhaus, später in Berlin in der Rolle des Hamlet zu sehen ist, überschlagen sich die Theaterkritiker vor Begeisterung. Auf den gefeierten Schauspieler wird eine Gedenkmünze geprägt, Johann Friedrich Schink publiziert eine siebzigseitige Abhandlung "Über Brockmanns Hamlet" und Daniel Nikolaus Chodowiecki produziert insgesamt fünfzehn Kupferstiche zu der Berliner "Hamlet"-Inszenierung. An diesen Überraschungserfolg der "Hamlet"-Inszenierung versucht Friedrich Ludwig Schröder, Direktor des Hamburger Theaters, anzuknüpfen, indem er in nur vier Spielzeiten weitere neun Dramen William Shakespeares auf die Bühne bringt. Auch andere Prinzipale der Zeit setzen auf die Theatertexte des englischen Bühnenautors. So erobern neben "Hamlet" auch die großen Tragödien "King Lear", "Romeo und Julia", "Othello" und "Macbeth" die deutschen Theater.
Der Etablierung Shakespeares auf der deutschen Bühne des 18. Jahrhunderts gehen intensive literatur- und theatertheoretische Debatten voraus, in denen die 'unregelmäßigen' Theatertexte Shakespeares den Dramen französisch-klassizistischer Prägung gegenüber gestellt und eingehend diskutiert werden. Von der theoretischen Shakespeare-Diskussion affiziert, machen es sich die führenden Häuser der Zeit zur Aufgabe, "dem Volk den Shakespear, von dem es jetzt so viel hört, auch auf der Bühne zu zeigen." Die Prinzipale rezipieren allerdings nicht die englischen Originaldramen, sondern die Prosaübersetzungen Christoph Martin Wielands, später auch Johann Joachim Eschenburgs, bearbeiten die Übertragungen im Hinblick auf die vorherrschenden poetologischen Wertmaßstäbe und in Bezug auf die technischen Bedingungen der Kulissenbühne und machen Shakespeares Dramen durch die Aufführung einem breiten Publikum zugänglich.
Durch die kapitalen dramaturgischen Eingriffe der Theaterpraktiker in die originäre Textgestalt wurden die freien Um- und Ausdeutungen der Shakespeare'schen Dramen in der Forschung des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts häufig als "rohe Verhunzung[en]", "ganz willkürliche Verballhornungen" oder "fragwürdige Zurichtung[en]" verstanden. Daher wurde die "theatralische Entdeckung Shakespeares im 18. Jahrhundert [in Überblicksdarstellungen] als eine Quantité négligeable schlichtweg ignoriert und ausschließlich die literarisch-kritische Shakespeare-Diskussion behandelt[...] - eine Schwerpunktsetzung, die noch auf etliche übergreifende Sammelwerke jüngeren Datums zur Aufnahme Shakespeares in Deutschlands nachwirkte".
In ihrer Dissertation setzt sich Renata Häublein das Ziel, "einen Beitrag zur Neubewertung der Anfänge der Shakespeare-Rezeption auf dem deutschen Theater" vorzulegen. Sie fragt nicht danach, ob die Bühnenadaptionen textadäquate Umsetzungen der englischen Dramen sind, sondern wählt einen interdisziplinären Zugriff, um die Bearbeitungen unter poetologischen, wirkungsästhetischen und bühnentechnischen Gesichtspunkten zu untersuchen. Im Gegensatz zu einer vergleichenden, rein literarischen Analyse, die sich in der Statuierung von Differenzen zwischen englischem Original und Adaption erschöpft, berücksichtigt Häublein den theaterpraktischen Kontext, um wesentliche Modifikationen der Textgestalt genauer erhellen zu können. Dabei rekurriert sie zum einen auf die wirkungsgeschichtlich relevantesten Shakespeare-Adaptionen, die zwischen 1767 und 1778 entstanden und von stehenden Bühnen aufgeführt worden sind, etwa auf Friedrich Ludwig Schröders "Hamlet" oder auf Felix Christian Weißes "Romeo und Julia", zum anderen befasst sie sich mit Bühnenbearbeitungen, die von der Forschung bislang entweder für unauffindbar gehalten oder kaum berücksichtigt wurden. So hat Häublein durch intensive Archivrecherchen die "Othello"-Bearbeitungen von Schröder und Johann H. Steffens sowie die "Macbeth"-Adaptionen von Schröder und Heinrich L. Wagner ausfindig gemacht. In ihre Untersuchung bezieht die Autorin zeitgenössische Rezensionen und theatertheoretische Schriften mit ein, um den Darstellungs- und Inszenierungsstil der Zeit sowie die Rezeptionsgeschichte der jeweiligen Dramen berücksichtigen zu können.
Dabei geht sie entweder exemplarisch vor, indem sie sich mit einzelnen Bühnenadaptionen befasst, oder arbeitet vergleichend, wenn sie verschiedene Adaptionen eines Dramas intertextuell analysiert. So untersucht die Autorin umfassend die erste bekannte Shakespeare-Adaption, Weißes "Romeo und Julia" und zeigt, wie Weiße das elisabethanische Drama zum bühnenwirksamen Bürgerlichen Trauerspiel transformiert. Im Gegensatz dazu verdeutlicht sie anhand Schröders und Brockmanns "Hamlet"-Interpretation, wie sehr die beiden Akteure die literarische Deutung des Dramas, das Rollenbild des Dänenprinzen und den Schauspielstil bis weit ins 19. Jahrhundert hinein prägen. Neben diesen exemplarischen Untersuchungen widmet sich die Autorin verschiedenen "Macbeth"- und "Othello"-Bearbeitungen und beleuchtet dabei die Differenz der interpretatorischen Zugänge. Auch mit dem "Kaufmann von Venedig" setzt sich die Autorin auseinander, insbesondere mit der Rollencharakteristik des Juden Shylock. Die antisemitischen Tendenzen des Stücks wurden auf der Bühne der Aufklärung nicht abgemildert, sondern die ambivalente Figur "den simplifizierenden Rollenklischees des Bühnenschurken oder aber des komischen Bühnenmauschels zugeordnet, was in beiden Fällen unweigerlich eine diskreditierende Zeichnung des Juden nach sich zog".
In ihrer ertragreichen Arbeit gelingt es Häublein, das "Spannungsverhältnis[...] zwischen individuellem Werkverständnis, Wirkungsintention und theaterpraktischen Bedingungen", das die untersuchten Bühnenbearbeitungen prägt, zu konkretisieren. Da es kaum einen aktuellen Forschungsbeitrag gibt, der sich mit den deutschsprachigen Shakespeare-Adaptionen des 18. Jahrhunderts aus literarischer und theaterpraktischer Perspektive auseinandersetzt, war Häubleins Arbeit ein Desiderat. Dabei sind ihre Forschungsergebnisse umso gewinnbringender, weil bis dato unberücksichtigt gebliebene Bühnenmanuskripte erschlossen werden.
Zu bedauern ist einzig, dass sich die Verfasserin lediglich bei der Analyse der verschiedenen "Macbeth"- und der "Kaufmann von Venedig"-Adaptionen mit ikonografischem Material auseinandersetzt, um ihre Thesen über die Aufführungspraxis im 18. Jahrhundert zu illustrieren. Der Rekurs auf Bildzeugnisse wäre auch ergiebig gewesen, um beispielsweise Brockmanns spezifischen Darstellungsstil als "Hamlet" zu beleuchten.