Poetische Härte

Gottfried Benns Lyrik in geheimnisvoller und abgeklärter Vertonung

Von Jörg von BilavskyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg von Bilavsky

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Benns Gedichte liest man nicht einfach nebenbei. Benns Gedichte fordern den ganzen Leser. Benns Gedichte kitzeln das Vorstellungsvermögen nicht durch wohl temperierte Wortschöpfungen, herzerweichende Harmonien oder milde Metaphern. Benns Gedichte sind sperrig, kantig und anstößig. Sie rütteln am Bewusstsein und an der Wahrnehmung. "Man will mit einem Gedicht nicht ansprechend sein, gefallen, sondern es soll die Gehirne spannen und reizen, aufbrechen, durchbluten", lautet sein wirkungspoetisches Resümee gegen Ende seines Lebens.

Christian Brückner und Charles Brauer haben diese ästhetisch-intellektuelle Herausforderung auf ganz individuelle Weise angenommen und legen zu Ehren von Gottfried Benns 50. Todestag auf jeweils einer CD reizvolle Rezitationen seiner Lyrik vor. Die beiden versierten Sprecher belassen es nicht bei der reinen Lesung: Sie möchten den Geist der Gedichte und ihres Schöpfers auch auf musikalischem Wege einfangen und zum Leben erwecken. Eine Atmosphäre schaffen, die direkt über den Gehörgänge das Gehirn und die Gefühle erreicht.

Der für sein unverwechselbar verrauchtes Timbre bekannte Brückner unterlegt und verbindet 31 Gedichte aus allen Schaffensperioden Benns mit den urbanen Klängen der Berliner Jazzband "Yakou Tribe". Die vier Musiker sind für ihre kontrastreichen Kompositionen und sphärischen Modulationen bekannt. Rastlosigkeit und Ruhe strahlen die Stücke ihrer beiden bisher erschienenen Alben "ROAD WORKS" und "red & blue days" aus.

Aber treffen sie wirklich den illusionslosen und ironischen Ton von Benns Versen? Die verspielten Gitarrenriffs und Saxofoneinlagen versprühen die Unruhe der Gegenwart. Eine experimentelle, durchaus anspruchsvolle Lounge-Musik mit Versatzstücken aus der Pop- und Rockmusik. Zwischenzeitlich muten die erzeugten Klangräume fernöstlich meditativ und spannungsreich-verzerrt an. Zugang zu Benns zeitlos-wehmütiger und mitunter elitär-provokativen Gedankenwelt bieten sie kaum.

Moderne Lyrik lässt sich nicht ohne Weiteres mit moderner Musik verschmelzen oder unterstreichen. Das melodiös-eingängige "Don Camelone" von "Yakou Tribe" leitet über zu Benns radikaler Betrachtung der Unterschichtensehnsucht nach Glück. In "Nachtcafé" spricht er von den libidinösen Begegnungen "Grüner Zähne", "Pickeln" und "Lidrandentzündungen". Ein kontrastreicher Stimmungswechsel gewiss, aber kein Kontrast, der das Verständnis für Benns lyrische Intentionen schärft.

Auch Charles Brauer setzt auf den variationsreichen Jazz, die Popmusik der Intellektuellen. Allerdings vertraut er auf die mythische Ausdruckskraft namhafter Jazzlegenden. Stücke von George Gershwin und Duke Ellington markieren nach jeweils sechs oder sieben Gedichten neue Akzente. Einzige Ausnahme bildet eine adaptierte Komposition Robert Schumanns. Instrumentiert sind alle Arrangements mit Holzblasinstrumenten, die per se eine lyrische Klangfarbe besitzen und insofern Benns Tonlage besser treffen oder konterkarieren. Trotzdem verhüllen auch diese musikalischen Intermezzi mehr als sie enthüllen, Brüche erkennbar werden lassen oder Kontrapunkte setzen. Sie vermitteln, wie bei Brückners Aufnahme, zumeist eine naive Leichtigkeit, die nur wenig von der zürnenden Melancholie, der verstörenden Rhythmik und dem elitären Zynismus Benns transportiert.

Die Musik, die Benns Lyrik mit all ihren "Höhen und Tiefen" wiederzugeben vermag, muss erst noch komponiert werden. Auch der mit Benns Rhythmik noch am ehesten harmonierende Cool Jazz trägt nur bestimmte lyrische Stimmungen in Benns Werk. Er selbst hat diese Art der Unterhaltungsmusik in späteren Jahren als "Entspannungsphänomen" genossen. In unmittelbare Nähe zu seinen vergeistigten Gedichten hat er sie nie gerückt.

Auf diesen Einspielungen trägt die Musik vielmehr zur Entspannung der Hörer bei, denen in der Tat intellektuell eine Menge zugemutet wird. Denn weder Brückner noch Brauer beschränken sich auf eine Schaffensphase, sondern reihen ohne klar erkennbares Strukturprinzip Gedichte aus den verschiedensten Perioden aneinander. Großstadtlyrik grenzt scharf an Naturpoesie, Geistiges an Gegenständliches. Immerhin wird so die metrische, stilistische und thematische Vielfalt seiner Gedichte sofort spürbar. Und der Hörer wird aufgefordert, sich den abrupten Übergängen im Minutentakt zu stellen.

Das machen ihm indes die glänzenden Sprecher leicht, weil sie ganz ungekünstelt in das "Lyrische Ich" Benns schlüpfen und den Gedichten trotzdem eine ganz individuelle Prägung geben. Hierin liegt das eigentlich Spannende und Neue. Die beiden Lesungen haben nichts von den klassisch-goethischen Benn-Rezitationen eines Gert Westphal, die zu Benns 100. Geburtstag vor zwanzig Jahren erschienen sind. Brückner haucht Benns Gedichten das Verwegene, das Unangepasste ein. Brauer streicht das Metaphysische und das Abgeklärte heraus.

"Dann", "Aprèslude", "Menschen getroffen", "Das sind doch Menschen", "Teils-Teils", "Eure Etüden", "Verlies das Haus" - dieser Gedichte haben sich beide angenommen. Wenn man diesen Interpretationen nacheinander lauscht, entsteht der Eindruck, zwei völlig verschiedene Gedichte gehört zu haben. Christian Brückner spielt mit den Strophen, lässt sie miteinander in einen Dialog treten. Brauer ruht in den Versen und bietet sie in einem gelassenen Monolog dar. Das Erschütternde, Extreme und Provokative in Benns Sektier- und Großstadtgedichten kommt bei Brückner im ironischen Wohllaut und mit beherrschter Unruhe. Geheimnisvoll und immer im passenden, zumeist sanften Tempo.

Brauers Interpretation ist klarer, unverstellter, kühler. Er lässt den Hörer die poetische Härte der Benn'schen Lyrik spüren, ohne ihn deswegen abzustoßen. Ganz im Gegenteil. Die Nähe des einst geschriebenen und jetzt gesprochenen Wortes wird in Brauers gleichmäßig akzentuierter Lesung besonders deutlich. Keine bedeutungsschwangeren Tempo- oder Stimmungswechsel. Geradlinig und präzise wie ein Schnitt mit dem Seziermesser. Brauer übertrifft Benns eigene Rezitationen sogar noch an Kühle und Gelassenheit. Zuweilen klingen Benns Radiovorträge nämlich sehr steif und angestrengt.

Die beiden Aufnahmen ergänzen sich nicht nur, weil es kaum Überschneidungen in der Auswahl gibt. Sie spiegeln auch Benns ganze gedankliche und stilistische Bandbreite wider. Vor allem bieten die Einspielungen einen perfekten Einstieg in das Werk eines "höchst anspruchsvollen, schwer begreifbaren, auf dunkle Art hinreißenden Lyriker". Diesem Urteil Klaus Manns darf man sich nach diesen Hörerlebnissen uneingeschränkt anschließen.


Titelbild

Gottfried Benn: Aprèslude. Gedichte. Gelesen von Christian Brückner.
Parlando Verlag, Berlin 2006.
68 Min., 18,90 EUR.
ISBN-10: 3935125577

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Gottfried Benn: Hommage an Gottfried Benn. Gelesen von Charles Brauer. Musikalische Begleitung: Diabelli Trio.
Hörbuch Hamburg Verlag, Hamburg 2006.
80 Min., 14,90 EUR.
ISBN-10: 389903239X

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