Gedanken eines Universalgenies
Hans Poser führt uns durch die Welten des Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz
Von Josef Bordat
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEs ist ein beachtliches Vorhaben, das Werk des deutschen Philosophen, Mathematikers, Ingenieurs, Diplomaten, Juristen und Theologen Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) auf zweihundert Taschenbuchseiten in seinen Grundzügen umreißen zu wollen. Hans Poser, emeritierter Professor für Philosophie an der TU Berlin und Leibniz-Experte, gelingt dies in eindrucksvoller Weise. In seiner kompakten, aber dennoch gut lesbaren Darstellung konzentriert er sich dabei auf das Wesentliche: Leibniz' Philosophie.
Ausgehend von den grundlegenden "großen Prinzipien" - demjenigen der Identität und des Widerspruchs, dem des zureichenden Grundes und dem Prinzip der Identität des Ununterscheidbaren, der Kontinuität und des Besten -, dem für Leibniz maßgeblichen Harmoniegedanken, der sich in der Universalharmonie und der prästabilierten Harmonie entfaltet, sowie seiner Begriffs- und Wahrheitstheorie interpretiert Poser die epistemologischen, ontologischen, substanzmetaphysischen und ethischen Ideen des Philosophen und verweist auf die Relevanz dieses abstrakten (und uns heute vielleicht auch fremd anmutenden) Denkens für dessen vielfältiges und nachhaltiges Wirken in den entlegendsten Bereichen. Ob Leibniz die Einheit der Christen zu befördern beabsichtigte, Maschinen konstruierte, nach mathematischen Zusammenhängen suchte, Rechtsgutachten verfasste, historische Forschungen betrieb, Politikberatung ausübte oder Neuerung der naturwissenschaftlich-technischen Entwicklung rezipierte, stets waren es die philosophischen Prämissen, die seine Arbeit geprägt haben. Poser legt mithin den Schwerpunkt auf den Bereich, der am ehesten das Verständnis des Universalgenies fördert und von dem aus es dem an spezifischen Fragen Interessierten möglich sein sollte, sich weiter über Leibniz' Arbeit zu informieren; das thematisch gegliederte Literaturverzeichnis mag hier eine weitere praktische Hilfestellung bieten.
Ganz im Trend der Leibniz-Forschung liegt der Autor mit der Erschließung der leibnizschen Philosophie über den Substanzbegriff und das Leib-Seele-Problem, das Leibniz in Abgrenzung zu Descartes, Malebranche und Spinoza neuartig löst und damit die Grundlage seiner Monadologie entwickelt. Poser lenkt den Leser durch Leibniz' Substanzmetaphysik und lässt ihn die Schlüsselfunktion der "Möglichkeit" im Verhältnis zur "Wirklichkeit" erfassen, sodass er die Beziehung der möglichen Welten zur geschaffenen Welt nachvollziehen kann und erkennt, dass die absolute Notwendigkeit göttlicher Finalität der Ursache-Wirkungs-Beziehungen im "Reich der Zwecke" sich im "Reich der Natur" in konsistenten Kausalitäten ausdrückt, ohne dass damit alle Abläufe in der Welt determiniert wären.
Doch ein eher unorthodoxes Moment macht diese Einführung besonders wertvoll: Poser betrachtet die Philosophie des großen Leibniz auch aus bisher wenig beleuchteter Perspektive, etwa wenn er auf die Bedeutung der natürlichen Sprache in der Sprachphilosophie Leibniz' hinweist, die an anderer Stelle häufig auf die Suche nach der mathematisierten characteristica universalis beschränkt wird. In der Tat betont Leibniz neben dem Zeichen-Kalkül immer wieder die natürliche Sprache in ihrer Eigenschaft, die Gemüter zu bewegen, aber auch als erkenntniskonservierendes und -leitendes Medium, das gerade in seiner Vagheit und Verschiedenheit wissenschaftlichen Fortschritt ermöglicht, da es sich an neue Erkenntnisse anzupassen vermag und es Menschen unterschiedlicher Sprachgemeinschaften ermöglicht, spezifische Erfahrungen zu machen, die sich in der Folge zum Wohle aller ergänzen. Gerade heute ist die Notwendigkeit klärender Gespräche zwischen Menschen unterschiedlicher kultureller und religiöser Kontexte wichtiger denn je.
Auch zeigt Poser deutlich, dass in der vielfach auf den Optimalweltgedanken als Ergebnis einer grotesk verzerrten Frömmigkeit reduzierten oder als Determinismus missverstandenen Theodizee mehr enthalten ist als die naive Vorstellung von einer "heilen Welt". Die Unterscheidung möglicher Welten von der im Schöpfungsakt tatsächlich zur Existenz gebrachten Welt, in der wir leben und manchmal eben auch leiden, schafft den metaphysischen Raum für den genialen Gedanken einer Vorhersicht Gottes, die nicht in Prädetermination mündet, sondern Freiheit zulässt, die nicht alles gut macht, sondern nur so gut wie möglich; die uns nicht ein Programm abspulen lässt, sondern unsere Entfaltung will - die moralische Verfehlung eingeschlossen - und uns dabei zur Vervollkommnung der Welt aufruft und befähigt.
Die Theodizee-Frage mag zwar hinsichtlich Leibniz' Ansatz einer Verteidigung der Güte Gottes angesichts der Übel dieser Welt in einer entzauberten Postmoderne "historisch" geworden sein, aber das "Warum?" in Gegenwart des Bösen und angesichts verheerender Naturkatastrophen ist nicht verstummt. Hier verweist Poser auf die strukturelle Parallele der Theodizee zur heutigen "Technodizee": Wir fragen heute mehrheitlich nicht mehr nach der Gerechtigkeit Gottes, sondern nach der Rechtfertigung technischer (Groß-)Systeme, die potenzielles Übel für die Menschheit in sich tragen.
Leibniz' Aktualität liegt somit nicht nur im technisch-naturwissenschaftlichen Bereich, in der Informatik und Semiotik, sondern auch in Fragen der Technikphilosophie und der Ethik, auch wenn er den meisten hauptsächlich bekannt ist als Vertreter der Relativität von Raum und Zeit - und damit als ein Antipode Einsteins -, durch seine Symbolik der Infinitesimalrechnung - das Integralzeichen, ein stilisiertes "S" wie "Summe", stammt von ihm - und als Erfinder des Binärcodes, der heute die Grundlage jedes Computers bildet. Poser verweist darauf, dass man die Verbindungen der leibnizschen Gedanken zu Wissenschafts- und Erkenntnistheorie, Sprachphilosophie, Metaphysik und Ethik nicht auflösen kann, ohne an Verständnis einzubüßen.
Ferner sei Leibniz' theologischer Impetus zu beachten. Immer wieder zeige sich in seinem Werk der ernste Christ, dessen theologisches Wissen und religiöse Ambition auch auf anderen Feldern fruchtbar werde. Nicht zuletzt entstamme jener Binärcode einer theologischen Überlegung: Leibniz möchte mit der Darstellung der Zahlen durch die "1" ( = Gott) und die "0" ( = Nichts) ein Bild der Schöpfung angeben, aus dem sich erkennen lasse, dass Gott nicht nur alles aus nichts erschaffen habe, sondern dieses auch in größtmöglicher Ordnung und Harmonie geschehen sei. Leider fällt die Aktualisierung ("Leibniz heute") sehr knapp aus. Hier ist nach der Lektüre mehr zu erwarten als die zwei Seiten, auf denen der Autor die wichtigsten Aspekte zusammenfasst.
Dennoch: Ein wertvolles Buch, das auch dem interessierten Laien einen Zugang zu Leibniz verschafft und eine erste Orientierung im disparaten Mammutwerk des großen Philosophen ermöglicht. Für die Studentin und den Studenten, der eine Seminararbeit (oder gar mehr) über Leibniz zu schreiben hat, bietet Posers Einführung eine hilfreiche Grundlage. Und weil das Wirken Leibniz' transdisziplinär war und der Computerfreak ohne eine profunde Kenntnis der leibnizschen Schöpfungstheologie ebenso wenig die Grundlage seiner Passion verstehen kann wie der an den Maschinen interessierte Ingenieur ohne Leibniz' philosophische Prämissen und sein systemisches Denken, eignet sie sich auch für alle, die im Sinne des Universalgenies den Blick über den Tellerrand ihrer Fachdisziplin wagen wollen, um in den großen Zusammenhängen vielleicht keine Lösungen für Detailfragen zu identifizieren, aber doch eine Offenheit zu entwickeln und ein Verständnis dafür zu gewinnen, worin der Kern von Leibniz' Aktualität besteht. In dem Anspruch nämlich, an der Vervollkommnung der Welt mitzuwirken, auch und gerade dann, wenn nicht mehr einsehbar ist, dass es die "beste aller möglichen Welten" sein soll.